Aug 26, 2016 09:42 CET

Bevor wir wieder eine volkstümliche Erzählung bringen, möchten wir unsere theoretischen Ausführungen über die iranische Volksliteratur fortsetzen. Heute geht es um die verschiedenen Themen in den Erzählungen des Volksmundes.

In den iranischen Volksmärchen geht es normalerweise um die Begegnungen von normalen und anständigen Menschen mit bösen Gestalten oder übernatürlichen Feinden wie Zauberern und Riesen.  Volksmärchen sind zeitlos und passen schnell in jede gesellschaftliche oder lokale Umgebung. Am geläufigsten sind Volksmärchen mit phantasievollem Inhalt, Fabeln und Erzählungen aus dem täglichen Leben.  Kenner der Volksliteratur  sagen, dass alle volkstümlichen Märchen und Erzählungen einen gemeinsamen Ursprung, nämlich das menschliche Unterbewusstsein, haben.

 

Die Vielfalt der iranischen Volksmärchen ist groß. Einige sind Epen und spornen zum Kampf an, wie Samak Ayyar und der Hamzeh Nameh.  Bei einigen anderen  wie beim Darab Nameh von Al- Tarusi kommt das Mythenhafte mehr zur Geltung und in einer weiteren Anzahl von Volksmärchen  wie Tausendundeine Nacht oder Tuti Nameh (Papageienbrief) überwiegt der unterhaltende Charakter.

 

 

Einige Märchenkenner unterscheiden die längeren Volksmärchen auf Farsi inhaltlich nach drei großen Gruppen. Zur ersten Gruppe gehören Märchen, die auf Emotionalität oder der Suche nach Gerechtigkeit basieren. Oft wird jemand, der an einen geliebten Menschen gelangen will, auf dem Weg zu seinem Ziel in zahlreiche Abenteuer verwickelt. Literaturkritiker meinen, dass diese Abenteuer nur als Hülle für einen verborgenen Hintergrund dienen, nämlich  den Kampf gegen das Hässliche und Schlechte.  In Wahrheit streben die Heldenfiguren in den Märchen nach Gerechtigkeit und der Beseitigung von Unrecht. Zu dieser Art von Märchen können Samak Ayyar, Darab Nameh und Amir Arsalan-e Namdar zählen. Es fällt auf, dass sich diese langen Volksmärchen hinsichtlich Thema, Struktur und Helden so ähnlich sind,  dass man meinen könnte, eines davon hätte allen anderen als Grundlage gedient.

 

 

Die zweite Gruppe langer Volksmärchen sind Märchen, die auf religiöser Überzeugung beruhen.  In diesen Märchen kämpft  ein König oder Heeresführer erfolgreich gegen die Gottesfeinde.  Die Volksmärchen in dieser Gruppe handeln also von Feldzügen und Kämpfen. Dazu gehören  Iskandar- (Alexander) , Hamzeh- oder auch der  Abu Muslim-Nameh und Hussein Kord Schabestari. Sie sind alle nach dem gleichen Muster aufgebaut.

 

Der Rest der langen Volksmärchen wird einer dritten Gruppe zuzuordnet, die thematisch sehr vielfältig ist. Diese Volksmärchen gestalten sich  wie Tausendundeine Nacht und ähneln der  indischen Folklore.  Teilweise kommen Tiere zu Wort und vieles wird mit Allegorien verbildlicht.  Typisch für diese Erzählungen ist, dass ein Märchen in ein anderes eingebettet wird.

Ein Teil dieser Märchen berichtet aus dem Leben von Königen, Fürsten und Händlern. Um das Märchen in die Länge zu ziehen, werden weitere Geschichten eingebaut.   In diesen Märchen passiert alles Mögliche. Ein besonderes Merkmal ist die enge Beziehung des Menschen zu allen anderen Geschöpfen, von den Pflanzen und Tieren bis zu den leblosen Dingen.  In diesen Märchen kann der Mensch mit den anderen Geschöpfen reden, sie um Hilfe bitten  und von ihnen lernen. Beispiele liefert Tausendundeine Nacht, Tuti Nameh (Papageienbuch)  und Bahar-e Danesch.

 

 

Nun bringen wir Ihnen ein konkretes Beispiel in Anlehnung an eine Geschichte aus  dem Farhang-e Afsanehhaye Mardom Iran.

 

Es war einmal ein Straßenhändler, der Dinge wie Seidenkokons verkaufte. Seine Frau schenkte ihm einen Sohn. Den nannte er Bahram.  Bahram verlor seinen Vater jedoch schon als kleines Kind und seine Mutter zog den kleinen Bahram groß. Sie wollte, dass er ein guter Mensch wird. Als Bahram 18 Jahre alt war , entschloss sich seine Mutter den einzigen wertvollen Gegenstand, den sie in ihrem kleinen Haus hatte, zu verkaufen. Es war ein Samovar  (Teekocher) aus Silber.  Für den Samovar erhielt sie auf dem Markt 300 Drachmen. Hundert Drachmen gab sie ihrem Sohn, damit der einige Seidenkokons kauft und den Beruf seines Vaters fortsetzt. Bahram ging zum Bazaar um Seidenkonkons zu kaufen, als er dort drei junge Männer sah. Sie schlugen mit einem Stock auf ein Bündel ein, in dem sich ein Tier befand. Da sagte Bahman: „Warum schlagt ihr das arme Tier?“

Die Burschen lachten:  „Wenn du nicht willst, dass wir es schlagen, dann gib uns doch 100 Drachmen und wir werden diese Katze freilassen.“

Da zahlte Bahram ihnen 100 Drachmen und sie ließen die Katze frei.

 

Die Katze schaute zu Bahram auf und sagte:   „Deine gute Tat wird niemals vergessen werden!“ und dann lief sie davon.

 

Am Abend kehrte Bahman mit leeren Händen heim und erzählte seiner Mutter, was geschehen war. Am nächsten Tag gab ihm seine Mutter wieder 10 Drachmen, damit er Seidenkokons kauft.

Da begegnete Bahram auf dem Markt ein paar Kindern, die einen Hund quälten . Bahram mischte sich ein. Da sagten die Kinder: „Wenn du Mitleid mit diesem Hund hast, dann zahl 100 Drachmen und wir lassen ihn laufen!“

Wieder gab Bahram 100 Drachmen her.

Die Kinder gaben den Hund frei. Der Hund blickte Bahram an und sprach: „Wer mit der einen Hand etwas gibt, wird mit derselben Hand etwas erhalten „, was soviel bedeutet wie: Wer  Gutes tut, dem wird Gutes geschehen. Dann lief der Hund davon. Bahram aber sprach  abends wieder mit seiner Mutter über das Erlebnis. Die Mutter gab ihm am nächsten Tag erneut 100 Drachmen und sagte: „Diesmal gib sie für uns aus und rette uns vor der Armut. Denn das ist das letzte Geld, das ich dir geben kann.“

 

 

 

Bis zum Abend suchte Bahram auf dem Bazar nach Seidenkokons, fand aber keine. Schließlich ruhte er sich am Stadtrand etwas  aus. Da sah er wie einige Leute eine Truhe herbeitrugen. Sie luden diese Truhe ab und  zündeten ein Feuer ein. Einer wollte die Truhe in Brand setzen, als Bahram rief: „Halt! Was ist da drin?“

Da sagten sie : „Ein schönfarbiges geschmeidiges Tier!“

Bahram sagte: „Das ist nicht richtig. was ihr da macht. Öffnet die Truhe und lasst es heraus.“

Einer der Männer sagt: „Wir geben dir die Truhe gegen  100 Drachmen.“

Da zahlte Bahram 100 Drachmen und durfte die Truhe behalten. Er brachte sie aus der Stadt hinaus . Als er sie öffnete, wand sich eine große Schlange heraus. Bahram wich ängstlich ein paar Schritte zurück.

Da sagte die Schlange: „Warum läufst du davon? Du hast mir das Leben gerettet. Komm lass uns Freunde sein!“

 

Bahram hatte sich ratlos hingehockt. Er hatte sein letztes Geld hergegeben und nun wusste er nicht, was er seiner Mutter sagen sollte. Die Schlange fragte, warum er traurig sei. Da erzählte Bahmran ihr alles. Die Schlange aber sagte: „Komm mit mir zu meinem Vater. Er ist der König der Schlangen und ich bin sein einziger Sohn. Erzähl ihm, wie du mich gerettet hast. Wenn er dich fragt, wie du belohnt werden willst, dann antworte: Ich möchte den Ring von Salomo haben.“

 

So geschah es: Der Schlangenprinz brachte Bahram in die Höhle des Schlangenkönigs und bat als Lohn um den Ring von Salomo. Der König mahnte, wenn dieser Ring in schlechte Hände gerate , dann werde der Teufel  damit Unheil auf der Welt anrichten.

Da sagte der Schlangenprinz: „Aber dieser junge Mann hat ein reines gütiges Herz!“

Da gab der Schlangenkönig Bahram den Ring.  Der Schlangenprinz brachte  Bahram zum Stadtrand zurück und erklärte ihm: „Immer wenn der Ring auf deinem rechten Mittelfinger steckt und du mit der linken Hand über seinen Edelstein streichst, wird der Geist des Rings erscheinen und dir herbeiholen, was du dir wünschst.“