Volkstümliche Erzählungen aus Iran-Teil 6
Unser heutiger Beitrag besteht wieder aus einem theoretischen Teil und einem konkreten Beispiel.
Meistens besitzen volksstümliche Märchen eine Moral. Dem Erzähler geht es eigentlich um diese moralische Anweisung und es ist diese Moral, die sich beim Zuhörer einprägt. Der Erzähler tritt als jemand auf, der über alles im Bilde ist. Er scheint Gedanken lesen zu können und über Vergangenheit und Zukunft Bescheid zu wissen. Volksmärchen sind nicht wie moderne Erzählungen, die einem festen vorherigen Konzept des Autors folgen. Die Mittel die ein moderner Schriftsteller einsetzt, fehlen. Das wichtigste Mittel eines Erzählers von Volksmärchen ist die Zusammenfassung. Ein solcher Erzähler beschreibt nur selten etwas ausführlich, denn es gibt in einem Volksmärchen keinen konkreten Ort oder eine konkrete Zeit, die beschrieben werden müssten.
In Volksmärchen treten immer menschliche Helden auf. Selbst die Helden in Gestalt von Tieren wie die in Kalileh wa Damneh tragen Eigenschaften, die bei Menschen als hoch eingestuft werden. Manchmal erleidet der Held eines Volksmärchen eine Niederlage oder er stirbt sogar, aber wenn er stirbt, dann immer für das Recht und für die Würde des Menschen. Es kann sein, dass an seiner Seite noch andere den Tod finden, aber das ändert nichts an der herausragenden Größe des Hauptheldens.
Der Hang zum Absoluten ist wichtiges Merkmal eines Volksmärchens. Durch eine reine Schwarz-Weiß-Schilderung treten die Figuren in diesen Geschichten als Symbol für die guten bzw. schlechten Eigenschaften der Menschen auf. Das heißt sie sind entweder liebenswert oder verabscheuungswürdig. Es gibt keine Zwischenstufen. Der Held ist immer Wahrzeichen des absolut Guten und sein Feind steht für das absolut Schlechte. Die Guten kämpfen gegen die schlechten Kräfte. Es geht also in den meisten volkstümlichen Märchen um den ewigen Kampf zwischen Gut und Böse. Die Helden sind gute schöne Menschen und ein Vorbild und besiegen die bösen , hässlichen Gestalten.
Nun bringen wir die Fortsetzung der Geschichte des letzten Beitrages. Sie wissen: Sie handelt von einem jungen Burschen, der eine Katze , einen Hund und eine Schlange vor Tierquälern rettet und dafür alles Geld, das ihm seine Mutter gegeben hat, ausgibt. Der Vater der Schlange schenkt dem jungen Mann mit dem guten Herzen den Ring von Salomo als Lohn. Mit diesem kann er sich jederzeit einen Geist herbeiwünschen, der ihm dient.
Als die Schlange sich von Bahram verabschiedet hatte, merkte Bahram wie hungrig er war. Da tat er, wie ihm der Schlangenprinz geheißen hatte. Er strich über den Edelstein an dem Ring und es erschien der Geist des Ringes. Bahram sagte zu ihm: „Bring mir süßen Reis.“ Und da stand auch schon sofort eine Schale mit gesüßten Reis vor ihm. Bahram stärkte sich und machte sich dann auf dem Weg zum Haus seiner Mutter. Er erzählte ihr, was passiert war, und sagte dann: „Ich möchte dieses kleine Lehmhaus abreißen und werde den Geist des Ringes bitten, einen Palast zu errichten.“
Doch die Mutter bat ihn: „Lass mein Haus stehen. Du kannst daneben einen Palast bauen lassen.“ Bahram war einverstanden. Dann strich er wieder über den Edelstein am Ring und als der Geist erschien sagte er:
„Stelle mir einen Palast bereit. Der soll schöne Gardinen haben, viele Diener und ein schönes Bett.“
Sein Wunsch wurde erfüllt.
Bahram begann ein neues Leben. Er kleidete sich in die besten Gewänder, aß das beste vom besten und bestieg die edelsten Pferde. Was ihm noch fehlte, war eine schöne Gemahlin. Als er eines Tages am Palast des Königs vorbeiritt, sah er dessen Tochter auf der Palastterasse stehen. Nach Hause heimgekehrt bat er seine Mutter:
„Bitte halte um die Hand der Tochter des Königs an.“
Die Mutter ging also zum König und trug das Heiratsgesuch vor. Doch auf Geheiß des Wezirs sagte der König, wer mein Tochter heiraten möchte, der muss sieben Kamelladungen mit Silber, sieben Edelsteine für ihre Krone und 7 Krüge voller reinem Gold geben. Außerdem muss er sieben Perlenteppiche für sie herbeibringen.“
Bahrams Mutter erzählte ihrem Sohn, was der König verlangte. Doch für Bahram war es ein Leichtes, all dies zu besorgen. Er hatte ja den Ring von Salomo!
Bald fand die Hochzeit statt. Es wurde 7 Tage gefeiert.
Aber jenseits der Berge lebte der Tatarenprinz. Seit Jahren liebte er die Tochter des Königs und nun erfuhr er davon, dass sie den Sohn des fliegenden Händlers geheiratet hatte.
Da schickte er eine schlaue alte Frau, damit sie das Geheimnis lüftet. Die alte Frau ging zu der Gemahlin des Bahram. Sie sagte, sie hätte niemanden und sei arm. Da sagte die Frau von Bahram freundlich: „Du kannst hierbleiben, so lange du willst.“ Die alte Frau blieb. Sie vermochte mit ihrer Redegewandtheit das Herz der Frau des Bahram gewinnen.
Eines Tages sagte sie zur Königstochter: „Eigentlich solltest du doch wissen, woher dein Gemahl all diesen Reichtum hat!“
Da fragte die Königstochter ihren Gemahl und Bahram verriet ihr das Geheimnis und zeigte ihr wo der Ring liegt. Die schlaue alte Frau lockte der Königstochter das Geheimnis ab, stahl den Ring und kehrte zu dem Tatarenprinzen zurück.
Der Tatarenprinz steckte den Ring auf den rechten Mittelfinger und strich mit der linken Hand über den Edelstein. Als der Geist des Ringes erschien, wünschte er sich die Königstochter herbei und dass der Sohn des Seidenkokonverkäufers wieder arm wird.
Der Palast Bahrams verschwand aus heiterem Himmel, mitsamt allen Dienern und aller Pracht und die Tochter des Königs sah sich plötzlich an der Seite des Tartarenprinzen. Bahram, der gerade mit seinem Gefolge durch die Landschaft ritt, sah, wie sich die Pferde und alle Diener in Luft auflösten. Von seinem Palast war keine Spur mehr zu sehen und am Leibe trug er ein grobes Gewand. Nur die Lehmhütte seiner Mutter war geblieben.
Wie groß war sein Kummer als er den Diebstahl bemerkte!
Da sagte seine Mutter: „Dinge, die der Wind herbeiträgt, nimmt er wieder mit. Ich habe noch ein wenig Geld! Kauf ein wenig Seidenkokons und geh dem Beruf deines Vaters nach.“
Als Bahram sich abends am Stadtrand ausruhte, sah er die Tiere, die er einmal gerettet hatte, auf sich zukommen; die Katze , den Hund und die Schlange. Diese erfuhren, was passiert waren. Da erkundigten sich Katze und Hund bei den anderen Tieren, ob sie den Dieb kennen. Ein Vogel wusste Bescheid: „Die alte Frau, die dem Tatarenprinz diente, ist der Dieb.“
Am nächsten Tag zogen Katze und Hund in die Stadt der Tartaren. Die Katze ging in den Palast, um die Königstochter zu fragen, wo der Ring ist. Als die Königstochter erfuhr, dass ihr Gemahl sie geschickt hat, sagte sie: „Der Tatarenprinz trägt ihn immer am Finger und in der Nacht bewahrt er ihn im Mund auf.“
Die Katze kehrte zurück und erzählte dem Hund alles. Da schmiedete der Hund einen Plan.
Am nächsten Tag fing die Katze in der Palastküche eine Maus und versprach ihr: „Wenn du tust, was ich sage, dann will ich dich am Leben lassen. Steck deinen Schwanz in den Pfeffer und komm zurück.“
Die Maus tat dies. Dann folgte sie der Katze in das Schlafgemach des Tatarenprinzen, sprang auf Anweisung der Katze auf seine Brust und steckte die Schwanzspitze in die Prinzennase. Der Prinz musste heftig niesen. Prompt sprang ihm der Ring aus dem Munde. Da kehrte die Katze, den Ring zwischen den Zähnen, zum Hund zurück. Die beiden suchten schnurstracks Bahram auf. Der wünschte sich sofort den Geist des Ringes herbei und dass er ihm seine Frau, seinen Palast und all seinen Besitz zurückbringt. Es dauerte nur einen Wimpernschlag und alles war wie vorher. Dann warf Bahram den Ring schnell ins tiefe Meer, damit er nie wieder in falsche Hände gerät.