Volkstümliche Erzählungen aus Iran-Teil 7
Auch diesmal wollen wir als erstes allgemein über die volkstümlichen Erzählungen speziell des Irans etwas sagen.
Wir hatten beim letzten Mal über die Erzähler und Heldenfiguren von Volksmärchen gesprochen. Wir sagten, dass in solchen Märchen immer ein Held auftaucht und dass absolut nach guten und schlechten Charakteren unterschieden wird. Ein weiteres Merkmal für diese Erzählungen des Volksmundes bezieht sich auf Ort und Zeit. Diese beiden liegen nicht konkret fest, d.h. es lässt sich nicht genau feststellen, wann und wo sich die Geschichte abspielt. Es tauchen imaginäre Länder und Städte auf, manchmal auch Orts- und Ländernamen, die es tatsächlich gibt. Phantasie und Wirklichkeit gehen dabei ineinander auf eine Weise über, dass der Hörer und Leser sie nicht voneinander unterscheiden kann. Die Ortsnamen passen eigentlich auf jeden Ort. Wo sich etwas ereignet, spielt keine Rolle. Wichtig ist was sich ereignet. In den Volksmärchen haben alle Städte ähnliche Merkmale.
Statik ist ebenso ein wichtiges Merkmal von Volksmärchen, d.h. die Charakteren stehen fest und sind unveränderlich. Sie sind statische Figuren, die durch Ereignisse keine Wandlung erfahren. In zeitgenössischen Romanen ist genau das Gegenteil der Fall. Dort wirken die Figuren auf Ereignisse ein und werden selber von ihnen beeinflusst.
Doch im Volksmund ist die Märchenfigur am Ende, nach Ablauf all der vielen Ereignisse, genauso wie vorher.
Typisch für Volksmärchen ist der Bruch mit dem Gewohnten. Es spielt sich etwas ab, was mit den Erfahrungen des Verstandes und der Sinne nicht übereinstimmt. Tiere und Gegenstände sprechen zum Menschen und der Mensch kann sich mit ihnen unterhalten. Ein Riese steigt aus einem kleinen Krug hervor. Der Mensch wird zu einem Stein, Baum oder Tier oder Tiere und Gegenstände zu einem Menschen. Diese außergewöhnlichen Ereignisse und Übertreibungen sind wohl das auffallendste Merkmal eines Volksmärchens.
Einige Forscher sagen, dass Märchen gerade durch diese außergewöhnlichen Ereignisse weniger überzeugend wirken. Es gibt bei solchen Ereignissen keine logische Beziehung zwischen Ursache und Wirkung und das schwächt nach Meinung dieser Forscher die Wirkung dieser Erzählungen und macht sie plump.
Aber andere Kenner erinnern daran, dass die Märchen Ausgangspunkt der Weltliteratur gewesen sind. Sie sind der Ansicht, dass die außergewöhnlichen Handlungen oder ungewöhnlichen Wesen einem Volksmärchen nichts schaden sondern ein charakteristisches Merkmal sind, welches Märchen interessanter macht. Man bedenke, dass man früher an einige Ereignisse glaubte, von denen man heute weiß, dass sie nicht möglich sind und es umgekehrt Dinge gibt, die heute ohne weiteres möglich sind, früher jedoch für niemanden auch nur vorstellbar waren.
In dem iranischen Märchen, das sie nun hören, spielen außergewöhnliche Handlungen eine ausgeprägte Rolle. Gemäß dem Aarne-Thompson-Index kommt diese Geschichte in 600 Variationen auch in anderen Sprachen wie Griechisch, Finnisch, Türkisch, Indisch, Russisch, Französisch und Deutsch sowie Ukrainisch vor.
Es waren einmal ein Mann und eine Frau. Schon viele Jahre waren seit ihrer Hochzeit vergangen, aber Gott hatte ihnen noch kein Kind geschenkt. Nachdem sie viele Male beim Heilkundigen gewesen waren, bedachte Gott sie mit einem Sohn. Sie nannten ihn „Maher“ (Maher bedeutet soviel wie „Meister“). Maher wuchs heran, bis eines Tages sein Vater zu seiner Mutter sagte: „Nun ist es an der Zeit, dass Maher das Haus verlässt, um einen Beruf zu erlernen, damit er später auf eigenen Füßen stehen kann.“
Die Frau stimmte ihrem Mann zu. Am nächsten Morgen bereitete sie für Maher und ihren Mann ein Reisebündel vor und die beiden machten sich auf den Weg.
Vater und Sohn zogen durch Berg und Tal, bis sie schließlich gegen Mittag an einem kleinen See mit ein paar Bäumen angelangten. Da sagte der Vater zu Maher: „Lass uns hier unter einem Baum sitzen und etwas essen.“ Wie sie so dasaßen und aßen, sahen sie plötzlich mitten aus dem See einen Mann herauskommen . Er setzte sich zu ihnen. Der Mann sagte zu Mahers Vater: „Überlass Maher mir. Ich werde ihm alle Fertigkeiten beibringen. Genau drei Jahre später kannst du ihn dir hier wieder abholen.“
Mahers Vater nahm das Angebot an und der Mann aus dem Wasser nahm Maher an der Hand und sie tauchten beide im See unter.
Drei Jahre lang weihte der Mann im See Maher in alle möglichen Künste ein. Maher war ein guter Schüler und bald war er ein großer Meister. Er beherrschte die Zauberei so gut, dass sein Lehrmeister neidisch wurde.
Nach drei Jahren spaltete sich der See wieder und der Wassermann brachte an dem vereinbarten Tag Maher ans Ufer zurück. Maher und sein Vater gingen gemeinsam nach Hause. Mahers Vaters war arm und verdiente so wenig, dass es immer nur für einen Tag reichte. Daher wollte Maher nun seine Fertigkeiten einsetzen und seinem Vater zu Reichtum verhelfen. Er sagte zu ihm: „Vater! Ich werde mich jeden Tag in einen schönen Schimmel verwandeln. Du kannst mich dann so oft auf dem Markt verkaufen,bis du reich wirst. Aber vergiss nicht, mir jedesmal das Halfter abzunehmen. Nimm das Halfter mit nach Hause und ich werde dann wieder zu einem Schimmel, den du verkaufen kannst. Tu dies so lange, bis du reich bist.“
Der Vater hörte auf ihn. Jeden Tag geschah das gleiche. Maher wurde zu einem Schimmel, den der Vater zum Markt brachte und teuer verkaufen konnte. Beim Verkauf nahm der Vater das Halfter mit und Maher verwandelte sich vom Halfter in einen neuen Schimmel. Mahers Vater wurde reich. Aber er wäre gerne noch reicher geworden.
Eines Tages kam der Wassermann in Gestalt eines Käufers auf den Markt.Er bot das Doppelte für den weißen Schimmel, in den sich Maher verwandelt hatte, aber er verlangte dafür, dass er auch das Pferdehalfter bekommt. Und so kam es, dass Maher wieder in die Hände seines Lehrmeister geriet. Dieser beneidete Maher wegen seiner Kunstfertigkeiten so sehr, dass er ihn töten wollte, denn Maher war ein starker Rivale für ihn.
Er band das Halfter an einem festen Pflock in der Erde fest und ging rasch davon, um eine spitze Klinge zu holen und Maher zu töten.
Die Tochter des Wassermannes erfuhr, was ihr Vater vorhatte. Sie und Maher waren in den drei Jahren gute Freunde geworden. So kam sie herbei und ließ Maher, welcher zu einem Schimmel geworden war, frei. Als ihr Vater zurückkam, sah er Maher fliehen. Maher verwandelte sich von einem Schimmel in eine weiße Taube und flog zum Himmel hoch. Doch sein Meister wurde zu einem Falken und verfolgte ihn. Da sah Maher von oben eine Hochzeitsgesellschaft. Schnell verwandelte er sich in eine duftende Rose und ließ sich in den Rockschoß der Braut fallen. Der Meister aber nahm die Gestalt eines Sängers an und gesellte sich zu der Hochzeitsfeier.
Die Gäste hoben eine nach dem anderen die Rose hoch um ihren Duft einzuatmen. Schließlich war der Wassermann an der Reihe. Er aber zerpflückte die Blüte. Doch eines der Blütenblätter viel zu Boden und wurde zu lauter Weizenkörnern. Da wurde der Wassermann zum Huhn und begann die Körner aufzupicken. Eines der Körner rollte in ein Erdloch. Es war Maher. Der verwandelte sich schnell in einen Fuchs. Weil des Meisters Zauberkünste zu Ende waren, konnte er sich nicht mehr weiter verwandeln. Er blieb ein Huhn und wurde vom Fuchs verschlungen. So siegte Maher über seinen neidischen Meister.