Volkstümliche Erzählungen aus Iran-Teil 16
Sie erinnern sich, dass wir über das Mathal gesprochen hatten und einige Merkmale dieser Art volkstümlicher Erzählungen beschrieben. Ein Mathal ist kurz und bündig, unter der Bevölkerung beliebt und oftmals in Reimen verfasst.
Diese kurzen Geschichten, die des öfteren als Zarb-ul Mathal – als Sprichwort - erhalten bleiben, sind Teil der Kultur eines Volkes und des Volksmundes.
Ein Mathal enthält weisen Rat und übermittelt Erfahrungen. Wegen ihrem allgemein gültigen Sinngehalt und ihrer Einfachheit finden solche Parabeln leicht unter der Bevölkerung Verbreitung. Die Bevölkerung verwendet sie meist unverändert.
Ein Mathal ist fast immer kurz. Forscher vermuten, dass viele Mathal ursprünglich längere Erzählungen waren, die aber im Laufe der Zeit durch Zurechtschleifen inhaltlich und in der Form gekürzt wurden. Doch einige Mathal sind auch noch nach vielen Jahren so gut wie unverändert geblieben und die Bevölkerung verwendet sie noch immer in ihrer ursprünglichen Form.
Kürzungen erfolgten mit der Zeit insbesondere bei den gereimten Mathal. So blieb zum Beispiel von einem Doppelvers nur noch der halbe Teil als Sprichwort erhalten, was zum Beispiel bei dem Sprichwort „Zaban-e Sorch sar-e sabs midehad bar bad“ - „Die rote Zunge gibt den grünen Kopf dem Wind preis“ – der Fall ist. Dieser Satz ist der zweite Abschnitt einer Ghasele von Amir Chosro Dehlawi. Diese lautet : „Be Paje Scham`schenidam s Qitschi Fulad – Zaban-e Sorch sar-e sabs midehed bar bad.“ - „Dies hab ich am Fuß der Kerze die Stahlschere sagen hören: die rote Zunge gibt den grünen Kopf dem Wind preis.“
Aber nur der zweite Teil des Gedichtes fand als Sprichwort verbreitet.
Ein einzelner Satz wird unter anderem deshalb zu einem Mathal, weil er von der Bevölkerung wiederholt verwendet wird. Doch welche Sätze sucht sich das Volk aus und weshalb wählt es einen bestimmten Satz? Literaturforscher haben häufige Mathal untersucht und nachgeforscht, welche Bedingungen ein Satz erfüllen muss, um als Mathal erhalten zu bleiben. Zum Beispiel muss die Satzaussage einleuchtend und klar sein. Ein solcher Satz soll eine Wahrheit und Erfahrung weitergeben und vor allen Dingen: Er muss kurz sein.
Ein kurzes Beispiel kann sich jeder schnell merken, nicht aber längere Beispiele und Mathal nicht. Kurze Sätze finden außerdem schnell Verbreitung. Literaturforscher sind daher der Ansicht, dass es im Gegensatz zu anderen volkstümlichen Geschichten in einem Mathal, besonders in einem Zarb-ul-Mathal – einem Sprichwort – kein überflüssiges Wort gibt.
Wir bringen nun unsere Erzählung von dieser Woche. Dieses Mathal heißt „Dozd basch wa mard basch“.
In alten Zeiten, als es weder Hotels noch Gasthäuser gab, ruhten sich die Reisenden unterwegs in Karawansereien aus. Manche Karawansereien waren wie kleine Festungen und von einer hohen Mauer umgeben. Eine von diesen Karawansereien hatte sogar ein Tor aus Stahl und kein Dieb konnte ihn sie eindringen. Die Händler, die an dieser Karawanserei Halt machten, konnten sich des nachts sorglos schlafen legen und waren sich sicher, dass kein Dieb eindringen kann.
Daher war diese Karawanserei sehr beliebt und bekant. Doch eines Tages machten drei Diebe untereinander ab, dass sie in diese Karawanserei einbrechen und die Legende von ihrer Unbesiegbarkeit beenden werden.
Die Diebe überlegten lange, bis sie sich schließlich dazu entschieden, hinter der Karawanserei einen Tunnel zu graben und unter den hohen Mauern hindurch in das Gebäude einzudringen.
Sie machten sich an die Arbeit und nach vielen Tagen hatten sie einen Tunnel angelegt, der bis in den Brunnenschacht im Hof der Karawanserei führte. In der Nacht krochen sie durch den Tunnel in die Karawanserei hinein und aus dem Brunnen heraus. Leise sammelten sie Waren und Gepäck der Reisenden und Händler ein und flohen auf dem gleichen Weg, auf dem sie gekommen waren.
Es war Morgen geworden. Die Nachricht von dem Diebstahl in der Karawanserei ging wie ein Lauffeuer herum. Auch der Gouverneur hörte davon. Er konnte nicht glauben, dass ein Dieb in diese Karawanserei mit ihren hohen Mauern eingedrungen war. Rasch ritt er dorthin und ließ seine Leute das Gebäude genau inspizieren. Doch die fanden weder Fußspuren noch ein Loch in der Mauer.
Da erklärte der Gouverneur, der Dieb müsse einer von den Leuten sein, die in der Karawanserei arbeiten. Er ließ alle Torwächter der Karawanserei holen und befahl, man solle sie so lange auspeitschen, bis sie den Diebstahl eingestanden haben.
Aber was hatten die Diebe inzwischen unternommen?
Die Diebe hatten ihre Beute an einen sicheren Ort geschleppt und waren nun zur Karawanserei zurück gekommen um zu sehen, was sich dort abspielt. Sie wurden Zeuge, wie die armen Torwächter ausgepeitscht wurden. Der Chef der Diebe bekam Mitleid und dachte bei sich: „Es wird Gott nicht gefallen, dass diese armen Kerle wegen etwas, was sie nicht getan haben, geschlagen werden.“
Also trat er vor und rief mit lauter Stimme:
„Haltet ein!“
Alle schauten in seine Richtung. Er machte noch einen Schritt nach vorne und sagte dann: „Lasst sie laufen. Sie haben nichts verbrochen. Ich war der Einbrecher!“
Der Gouverneur rief: „Das warst du?
Wie hast du das geschafft?“
Der Chef der Diebe antwortete: „Ich habe einen unterirdischen Gang bis zum Brunnen der Karawanserei gegraben.“
Da liefen alle zum Brunnen.
Der Gouverneur fragte: „Und wo sind die Sachen, die den Reisenden gehören? Wenn du die Wahrheit sagst, dann zeig uns den Ort.“
„Die sind in diesem Brunnen,“ sagte der Dieb.
Einer solle runter gehen und nachschauen. Aber keiner wagte sich in den Brunnen hinunter.
Da schlug der Chef der Diebe vor, man solle ihn an einem Seil herunterlassen.
Sie banden ihm ein Seil um den Leib und ließen ihn in das Brunnenloch hinunter.
Als der Dieb im Brunnen auf der Höhe des unterirdischen Ganges war, band er schnell das Seil an einem Stein, der aus der Brunnenwand hervorragte, fest und flüchtete. Seine Komplizen hatten inzwischen auch unbemerkt die Karawanserei verlassen.
Die Reisenden warteten eine ganz Zeit lang, aber der Dieb ließ sich nicht mehr blicken. Da berieten sie miteinander und der Gouverneur befahl, einer seiner Beamten müsse hinunter steigen. Da stieg einer von seinen Leuten herunter und fand den unterirdischen Gang in der Brunnenwand. Er kroch hindurch und gelangte hinter die Mauer der Karawanserei. Schreiend kam er bald darauf durch das große Tor der Karawanserei zurückgelaufen.
Alle begriffen , wie die Diebe in die Karawanserei eingedrungen waren.
Die armen Torwächter wurden freigelassen. Man sah den Gouverneur aufgeregt hin- und herlaufen und mit sich selber reden, als plötzlich einer der Reisenden, dem ein Teil seiner Güter gestohlen worden war, rief: „Hört! Dieser Dieb war fair und er kann meine Sachen ruhig behalten und seine Freude daran haben. Er war schlau, dass er in diese Karawanserei, die unbezwingbar schien, eindringen konnte. Aber noch wichtiger ist, dass er sehr menschlich war. Er hat sich selber in Gefahr gebracht, um die schuldlosen Torwächter vor der Peitsche und Folter zu retten. Stehlen ist nicht gut, aber wenn jemand etwas Schlechtes tut, dann ist es besser, dass er sich wie dieser Dieb wenigstens menschlich und ritterlich verhält.“
Seitdem sagt man über jemanden, der zwar etwas Schlechtes tut, aber dennoch Anstand besitzt: „Dozd Basch wa Mard Basch“ Das bedeutet so viel wie: „Bleib immer ein Mensch, auch wenn du ein Dieb bist.“