Volkstümliche Erzählungen aus Iran-Teil 17
Heute möchten wir über weitere Besonderheiten eines Mathals sprechen. Wie Sie wissen, sind Mathals so etwas wie Parabeln und bestehen manchmal nur aus einem Satz. Zu den Mathals gehören auch die Sprichwörter – die Zarb-ul Mathal.Für den zweiten Teil unseres Beitrages haben wir wieder ein solches Mathal für sie herausgesucht.
Ein Mathal ist lehrreich und bündig. Es baut auf den konkreten Erfahrungen der Normalbürger auf. Außerdem ist es interessant und wirkungsvoll. Wegen ihrer Verständlichkeit und Nützlichkeit haben diese Art von Kurzgeschichten eine große Wirkung. Ein kurzes Mathal hat nachweislich manchmal mehr Wirkung als eine mehrstündige Ansprache. Das Mathal prägt sich tief ein und wirkt verändernd auf die Einstellung. Gerade diese Wirkung auf Geist, Leben und Verhalten des Hörers sorgt dafür, dass ein Mathal bekannt wird und laufend als moralische Regel und Richtschnur fürs Leben eingesetzt wird. Natürlich muss ein Mathal zum richtigen Zeitpunkt und an der richtigen Stelle benutzt werden, um seine Wirkung nicht zu verfehlen.
Eine einfache, aber klangvolle und manchmal auch lustige Ausdrucksweise steigert die gute Wirkung von einem Mathal oder Zarb-ul Mathal (Sprichwort) . Literaturforscher haben kurze Weisheiten mit den Mathal verglichen und sind zu dem Ergebnis gelangt, dass das Mathal bei gleichem Inhalt normalerweise die größere Wirkung hinterlässt. Zum Beispiel liegt uns zum Thema „Geduld“ eine Weisheit (sochan-e hakimaneh) vor, die wie folgt lautet: Aqebat-e Sabr nik ast“ – Geduld endet gut“. Aber auch das Mathal „Agar Sabr koni, as Ghureh Halwa sazi“ spornt zur Geduld an. Dieses bedeutet übersetzt ungefähr: „Wenn du geduldig wartest, kannst du (saures) Wasser unreifer Trauben in (süßen) Halwa verwandeln.“
Beide Sätze sagen dasselbe aus , aber das Mathal mit den unreifen Trauben und der Süßspeise hat sich besser durchgesetzt. Es ist nämlich anschaulicher.
Die Sprache eines Mathals insbesondere eines zarb-ul mathals ist flüssig und einfach. Sie ist ungekünstelt und offen und entspringt der natürlichen einfachen Sprechweise der Menschen. Es werden dennoch klangvolle Wörter verwendet. Alle Bestandteile eines Mathals, zum Beispiel eines Sprichwortes – tragen zur Verständlichkeit bei. Dies liegt an den geläufigen und einfachen Worten, aus denen sich Mathals zusammensetzen.
Die Araber ändern nicht die Form von Mathald (Beispielen, Sprichtwörtern u.ä.). Aber für Sprichwörter in Farsi existieren oftmals verschiedene Versionen. Einige Sprichwörter werden je nach Gegend anders formuliert. Unterschiedliche Lesearten sind überhaupt ein Merkmal der iranischen Volksliteratur. Wie beobachten dieses Phänomen nicht nur bei Mathals sondern auch bei den anderen Formen, wie Märchen, Schlaflieder, Rätsel und Volksmelodien. Verschiedene Lesearten eines Mathals kommen durch die Zahl derer, die es erzählen, zustande. Wenn Kultur vom Volke weitergegeben wird, wird jeder nach Geschmack und Vorliebe, Kulturniveau und Notwendigkeit usw., so wie er es richtig hält, neue Versionen von einer Geschichte schaffen.
Ein anderer Grund für verschiedene Erzählversionen eines Mathals besteht darin, dass diese Mathals nicht schriftlich festgehalten, sondern mündlich und von Generation zu Genration weitergegeben werden. Da ist es nur natürlich, dass mal Wörter im Satz vertauscht werden oder ein Teil hinzugefügt oder weggelassen wird.
Weitere Ausführungen verschieben wir auf den nächsten Beitrag.
Es folgt die Geschichte von dieser Woche. Es handelt sich auch wieder um ein Mathal und zwar heißt es „Bitschare Char Arezu-ye Dom kard, Nayafteh Dom, Do Gusch gom kard!
In einem Dorf gab es einmal einen sehr verspielten Esel. Der liebte es überall hinzulaufen und in fremden Gärten und auf den Äckern herumzustreunen. Dabei bereitete er den Bauern viel Ärger. Die Dorfbewohner hatten seinen Schabernak bald satt und warnten seinen Besitzer: „Wenn du deinen albernen Eseln nicht von seinen Streichen abhältst, kann er etwas erleben!“
Der Besitzer des Esels versprach, besser auf das Tier aufzupassen. Aber sein Esel ließ sich nicht bändigen.
Der unternehmungslustige Esel trieb sich wieder einmal auf dem Acker einer der Bauern herum und tat sich an dem Weizen gütlich. Da ertappten ihn einige auf frischer Tat. Sie packten sich das Tier und schnitten ihm den Schwanz ab. Dann sagten sie zu ihm: „Das haben wir getan, damit du nie mehr auf fremde Felder kommst!“
Bald hatte der Eselsbesitzer davon erfahren, dass einige seinen Esel erwischt hatten. Doch er kam zu spät herbeigeeilt. So brachte er seinen Esel, der nun keinen Schwanz mehr hatte, ärgerlich nach Haus.
Als die anderen Tiere im Stall den Esel ohne Schwanz sahen begannen sie über ihn zu reden und zu witzeln.
Aber unter den Eseln im Stall war auch ein kluges Langohr. Dieser weise Esel sagte zu dem jungen übermütigen Artgenossen: „Es ist nun einmal passiert. Ich habe dir doch oft genug gesagt, dass du dir noch Ärger einhandelst und in Verruf kommst. Aber du hast nicht auf mich gehört. Dann gib wenigstens ab jetzt Acht.“
Der Esel ohne Schwanz aber antwortete frech: „Na und?! Was spielt es für eine Rolle, wenn ein Esel keinen Schwanz hat?
Der weise Esel aber sagte: „Und was willst du jetzt machen?“
Der junge Esel:“Nun! Ich möchte schon gerne meinen Schwanz wiederhaben. Ohne Schwanz erkennen mich alle sofort.“
Der weise Esel erklärte: „Du bist selber schuld! Da kann man nichts mehr machen!“ Aber der junge Esel wackelte mit den Ohren und meinte: „Doch!Man kann etwas tun! Ich geh dort hin, wo sie mir den Schwanz abgeschnitten habe und werde ihn mir holen!“
Da brachen alle Tiere in lautes Lachen aus. Aber der Weise unter ihnen sagte: „Sei endlich vernünftig! Möchtest du wieder Ärger haben? Du solltest es nicht noch schlimmer machen als es schon ist. Ist dir das klar?“
Der übermütige Esel aber rief: „Ich werde alles wieder in Ordnung bringen. Du wirst sehen!“
Der übermutige junge Esel lief also am nächsten Tag genau zu der Stelle, wo sie ihm den Schwanz abgeschnitten hatten. Erst stärkte er sich ein wenig in dem Weizenfeld und dann begann er nach dem Schwanz zu suchen. Da hörte er plötzlich Stimmen: „Leute, kommt her! Der freche Esel ist wieder da!“
Plötzlich war der Esel wieder von Dorfbewohnern umringt. Der eine rief: „Wir sollten ihn so lange schlagen, bis er zur Vernunft kommt!“
Ein andererer meint: „Nein, lasst ihn uns zu seinem Besitzer bringen.“ Und ein Dritter meinte: „Ach, das hat alles keinen Zweck. Dieser Esel wird niemals zur Vernunft kommen, sonst hätte er doch inzwischen eingesehen, dass er nicht tun und lassen kann, was er will. Letztes Mal haben wir ihm den Schwanz abgschnitten. Diesmal schneiden wir ihm die Ohren ab!“
Da begriff der Esel, welchen großen Fehler er begangen hatte. Aber seine Einsicht kam zu spät! Die aufgeregten Männer schnitten dem Tier beide Ohren ab und ließen es stehen.
Dem Esel fehlte diesmal nicht nur der Schwanz sondern er hatte auch keine Ohren mehr,als er in den Stall zurückkam.
Der Besitzer schalt ihn: „Siehst du, was du angestellt hast? Was willst du den anderen Eseln jetzt sagen?“
Als der Esel in den Stall kam, lachten ihn alle tüchtig aus. Nur der weise Esel schwieg. Da fragten sie ihn: „Warum lachst du nicht mit?“ Er sagt: „Was gibt es da zu lachen! Wir Esel sollten deshalb weinen, denn man wird wieder hinter unserem Rücken reden.
Die Leute werden sagen:
Bitschare Char Arezu-ye Dom kard, Nayafteh Dom, Do Gusch gom kard!
„Der arme Esel wollte seinen Schwanz zurückhaben, den hat er aber nicht gefunden und auch noch beide Ohren verloren.“
Dieses Mathal wendet man auf jemanden an, der einen Segen verloren hat, und bei dem Versuch, an ihn zurückzugelangen, einen weiteren Segen aus der Hand gibt.