Nov 25, 2016 17:44 CET

Wir begrüßen Sie wieder zu einem kurzen theoretischen Teil über volkstümliche Erzählungen und dem darauffolgenden konkreten Beispiel. Wir haben bereits typische Eigenschaften des Mathals angeführt.

Ein Mathal ist kurz und in einfacher Sprache gehalten und wird bei der Weitergabe auch Änderungen unterworfen. Ein weiteres Merkmal eines Mathals besteht darin, dass es Denken und Lebensbräuche eines Volkes wiederspiegelt.  Schon die   ganz kurzen Mathals, nämlich die Zarb-el Mathals –die Sprichwörter, geben über diese Dinge Auskunft. Bei eingehender Betrachtung des Sprichwortschatzes eines Volkes kann man leicht etwas über seine Mentalität ,  seine Denkweise und seine Interessen erfahren. Man lernt auch das kennen,  was unter diesem Volk als gut bzw. schlecht gilt.

Soziologen sagen, dass Sprichwörter  Aufschluss über die sozialen Werte und Anti-werte geben, die von einer Bevölkerung akzeptiert bzw. abgelehnt werden.  Die Sprichwörter geben also mehr als die schriftliche Literatur, Prosa und Poesie, das Denken in einer Gesellschaft wieder. Die Literatur stammt von bestimmten Autoren, aber Sprichwörter  kommen aus der Mitte des Volkes und wurden mündlich von Generation zu Generation an uns weitergegeben. Sie  werden nicht nur von bestimmten Leuten, sondern von allen verwendet. Sie sind also ein Spiegel der Gesellschaft und der Geschichte eines Volkes.

Forscher sehen in den Mathal und Zarb-ul Mathal eine Art praktische Anleitung fürs Leben. Diese kurzen  Parabeln und Sprichwörter zeigen uns, was unsere Pflicht in der Gesellschaft ist:  Wie wir mit unbequemen Dingen klarkommen sollen,   wie wir uns vor Verwerflichen hüten müssen,  wie man für gute Eigenschaften bekannt wird  und wie man  wann und wo vernünftig vorgehen soll, um keine Enttäuschung zu erleben.

Alle Mathal enthalten  eine Lehre fürs Leben. Wenn jemandem gesagt wird: „Har tschisi keh Chaar ayad, rusi be kaar ayad“ (alles was unbedeutend erscheint, wird  einmal etwas nützen) , wird der Mensch gemahnt, dass er das, was er besitzt, schätzen soll und nichts als wertlos und unbedeutend betrachten darf.

Es dauert Jahre, bis ein Mathal überall Verbreitung gefunden hat.  Wenn ein Mathal seit langer Vergangenheit bis heute immer noch vom Volk verwendet wird, lässt sich daraus schließen,  dass viele der heutigen Gewohnheiten und Sitten den Gewohnheiten und Bräuchen, die es vor Jahrhunderten gab, ähneln.  Dieser Aspekt ist für  volkskundliche und soziologische Studien von großer Bedeutung und liefert Erkenntnisse über  die historische Mentalität in einem Lande. Mathal und insbesondere die Sarb-ul Mathal sind ein zuverlässiger Beleg für die Kultur, das Denken und die Überzeugungen der  Vorfahren. Aus den vielen Mathals und Sprichwörtern lassen sich  wichtigste Informationen über Politik, Gesellschaft, Wirtschaft und Lehre entnehmen.

Nun aber zu unserem  konkreten Beispiel, nämlich das Mathal: „Mesl Chan-e Merw schodeh, Tschenar Dschelu- ye Chaneh-asch ra ham nemibinad.“

 

 

Es heißt, in der Stadt Merw, die früher zu Iran gehörte, (heute liegt sie in Turkmenistan)  lebten einmal zwei sehr gute Freunde. Einer der beiden Freunde trat  auf der Suche nach Wissen eine lange Reise an. Der andere blieb in Merw und wartete auf den Tag, dass sein Freund irgendwann einmal wieder zurückkehrt. Er betrieb Handelsgeschäfte, hatte ein gutes Einkommen und war geachtet. Die Bürger vertrauten ihm.

Einige Zeit, nachdem die beiden Freunde sich getrennt hatten, starb der Verwalter von Merw. Da entschied der Kalif, dass der vertrauenswürdige Händler sein Nachfolger wird.  So wurde also einer  der beiden Freunde zum Gouverneur von Merw.

Es vergingen einige Jahre. Der Gouverneur von Merw war sehr reich geworden. Er kaufte sich ein großes Haus, um von dort aus die Stadt zu verwalten, und stellte viele Leute  in seinen Dienst. Keiner konnte mehr so leicht wie früher bei ihm vorsprechen. Er erteilte an alle Befehle und alle fürchteten ihn.

Der Freund des Gouverneurs war ein großer Gelehrter geworden und in seine Stadt zurückgekehrt. In seiner Heimatstadt angekommen, suchte er sofort das Haus seines alten Freundes auf. Doch die Nachbarn erzählten ihm, dass er es verkauft hat, zum Gouverneur ernannt wurde und nun in einem großen Haus lebt. Da machte er sich  gleich auf den Weg zu dem neuen Haus seines Freundes.

Aber als er es betreten wollte, versperrte man ihm den Weg. Die Wächter des Gouverneurs sagten:

„Du kannst das Haus des Gouverneurs doch nicht einfach ohne Erlaubnis betreten! Wer bist du überhaupt? Was willst du hier?“

Der Gelehrte sagte:

„Ich bin doch kein Fremder. Ich bin ein alter Freund des Gouverneurs. Jahrelang haben wir uns nicht gesehen!“

Ein Wächter sagte: „Nein, so geht das nicht! Setz dich dort unter den Baum und warte, bis der Gouverneur das Haus verlässt. Wenn er dich sieht, kannst du mit ihm reden, wenn ihm das recht ist!“

Vor dem Haus des Gouverneurs stand eine große Platane. Der Gelehrte setzt sich in ihren Schatten. Einige Stunden vergingen. Es war am späten Nachmittag und wurde langsam dunkel, als es hieß, dass der Gouverneur das Haus verlassen wolle.

Der Gelehrte stand auf und blieb wartend unter der Platane stehen.

Der Gouverneur kam aus dem Haus, umgeringt von einer Schar von  Leuten. Während er mit den anderen sprach, ging er auf seine Kutsche zu, bestieg sie, und die Kutsche setzte sich in Bewegung.

Er hatte seinen alten Freund unter der Platane überhaupt nicht bemerkt.

 

Der Gelehrte war zuerst sehr enttäuscht , dann tröstete er sich: Die anderen in seiner Begleitung, haben nicht zugelassen, dass er mich sieht. Vielleicht war es auch schon zu dunkel. Morgen wird er mich bestimmt bemerken.

 

Am nächsen Tag  wartete er wieder unter der Platane darauf, dass sein alter Freund das Haus verlässt.  Aber es wiederholte sich das gleiche wie am Vortag. Das ging so einige Tage, bis der Gelehrte schließlich zu dem Schluss gelangte, dass sein Freund zu beschäftigt ist und es nicht so leicht zu einem Treffen kommen kann.

Deshalb ging er nicht mehr zur Platane.

Er suchte sich eine Arbeit und unterrichtete an einer Madressa – einer theologischen Lehrstätte.

So verging einige Zeit.

Eines Tages hieß es in Merw, der Gouverneur sei abgesetzt worden. Bald darauf wurde ein anderer zum Gouverneur ernannt. Da suchte  der Gelehrte erneut das Haus seines alten Freundes auf.

Jetzt gab es keine Wächter mehr vor der Tür. Er klopfte an und trat ein.

Die beiden Freunde , die sich jahrelang nicht gesehen hatten, schlossen sich in die Arme.

Der ehemalige Gouverneur, sagte traurig zu seinem Freund, dem Gelehrten:

„Ach, ich habe gehört, dass du zurückgekommen bist, aber ich   hätte nicht gedacht, dass du mich vergisst und mich erst so spät besuchen kommst! Es wäre schön gewesen, wenn du mich besucht hättest, als ich noch Gouverneur war.“

Da erzählte ihm der Gelehrte, dass die Wächter ihn nicht ins Haus gelassen hatten und wie oft er im Schatten der Platane darauf gewartet hatte, dass ihn der Gouverneur beim Verlassen des Hauses  bemerkt.

Er sagte: „Du hast gar nicht auf deine Umgebung geachtet. Und so konnte ich dich nicht ansprechen.“

Da seufzte der ehemalige Gouverneur und sagte: „Du hast Recht. Ich war stolz und eingebildet und hab nur die Schmeichler um mich herum gesehen. Ich war so von mir eingenommen, dass ich noch nicht einmal die große Platane gesehen habe, geschweige denn dich  in ihrem Schatten bemerkt hätte.“

Da sagte der Gelehrte: „Vergessen wir das. Aber gib Acht, dass der Stolz dich in Zukunft nicht mehr blendet.“

Seitdem verwendet man auf jemanden , der reich und mächtig wird und seine alten Freunde vergißt, das Mathal: Mesl Chan-e Merw schodeh, Tschenar Dschelu-ye Chaneh-asch ra ham nemibinad.“

„Er ist wie der Verwalter von Merw geworden und sieht selbst die Platane vor seinem Haus nicht.“