Islam richtig kennenlernen (36)
Wir besprechen weiter die Gerechtigkeit Gottes. Im letzten Teil haben wir über die Naturkatastrophen nachgedacht und uns gefragt, wieso es hin und wieder zu verheerenden Stürmen, Überflutungen und Erdbeben kommt, obwohl doch die Welt auf göttlicher Gerechtigkeit und Weisheit aufbaut. Wie sind diese Katastrophen mit der Gerechtigkeit in der Daseinsordnung vereinbar?
Dabei sind wir zu dem Schluss gekommen, dass wir nicht von den eigenen Vor- und Nachteilen ausgehen dürfen, wenn wir die Phänomene in der Natur gerecht beurteilen wollen. Dieses Thema wollen wir nun weiterführen.
Wie bereits gesagt, stellen wir bei näherer Beobachtung der Entwicklungen der Welt fest, dass Dinge, die uns selber bei diesen Entwicklungen schaden, möglicherweise gleichzeitig oder in Zukunft anderen etwas nützen. Insgesamt bewegt sich die Welt auf die Verwirklichung der Ziele zu, die für sie festgelegt wurden. Dabei ist es möglich, dass einige während dieser Entwicklungsbahn Schäden und Leid erfahren. Der iranische Denker Ajatollah Mussawi Lari schreibt dazu:
„Die jenseitigen Wirkungen von unglücklichen Ereignissen würden uns bewusster, wenn wir die Geheimnisse der Welt besser kennen würden. Zweifelsohne sind Ereignisse der Gegenwart die Folge einer Reihe vorausgehender Faktoren und verursachen selber wieder Ereignisse in der Zukunft. Hätten wir die Möglichkeit von einer höheren Warte aus auf die Welt zu blicken und könnten wir die Geheimnisse der Welt unverhüllt sehen und ein Urteil über die Wirkungen und Folgen von Ereignissen in der Vergangenheit und Zukunft und im Rahmen der gesamten Daseinsordnung fällen, würden wir die Verhältnisse, die in der Daseinsordnung herrschen, als gerecht empfinden. Da wir aber nicht die Rätsel von komplizierten Zusammenhängen aufdecken können, müssen wir uns vor überstürzten einseitigen Vorurteilen hüten. Oftmals verfolgt die Natur ein bestimmtes Ziel, das sich der Mensch gemessen an den normalen Ereignissen nicht so leicht vorstellen kann.“
Jemand der über unliebsame Ereignisse ein Urteil fällen will, ist mit einem Reisenden zu vergleichen, der in einer fremden Stadt mehrere Bulldozer sieht, die gerade eine Reihe von Gebäuden am Rande einer Straße abbrechen. Auf den ersten Blick mag dieses Vorgehen für ihn wie willkürliche Zerstörung anmuten. Doch wenn er erfährt, dass diese Abbrucharbeiten dem Bau einer modernen erdbebensicheren Wohnsiedlung dienen sollen, wird er nicht dagegen protestieren sondern diese Abbrucharbeiten sogar begrüßen.
Unglück und Leid sind traurig und gefürchtet, aber sie können ein Mittel sein, um den Menschen wachzurütteln. So verbirgt sich im Kern von Leid und Unglück für den Menschen oft eine wertvolle Lehre und Segen. Katastrophen und Unglücke sind mit anderen Worten ein Warnsignal. Sie machen den Menschen auf seine Mängel und Fehler aufmerksam und veranlassen ihn, diese zu beseitigen.
Einige sehen in dem Konflikt zwischen den Gegensätzen einen Antrieb zur Weiterentwicklung. Der Weg zur Weiterentwicklung für den Menschen und selbst für andere Lebewesen führt über die Härten und Unbilden. Es lässt sich sagen, dass die Härten des Lebens tatsächlich eine beachtliche Rolle bei der Entfaltung und Vervollkommnung der menschlichen Personalität spielen.
Solange Metalle nicht im Ofen geschmolzen werden, können sie nicht rein werden. Ähnlich können sich Geist und Seele des Menschen nicht festigen und der Mensch erreicht kein Wachstum, wenn er sich nicht mit Problemen auseinandersetzen muss. Härten und Probleme stählern den Willen des Menschen. Sie spielen eine große Rolle für die charakterliche Selbstveredlung. Die Entfaltung von menschlichen Tugenden – wie Gottes- und Nächstenliebe, Nachsicht und Opferbereitschaft wird nur durch die Auseinandersetzung mit den Härten des Lebens möglich. Imam Ali (gegrüßet sei er) vergleicht Menschen, die durch Leid und Härten eine Entfaltung erfahren, mit den Bäumen, die in der dürren Steppe wachsen. Ihr Holz ist fester und sie sind gegenüber dem Sturm widerstandsfähiger. Aber Menschen, die nur nach Bequemlichkeit suchen und Wohlbehagen kennen, sind in den Augen des Imams wie Bäume, die an einem Bach wachsen und laufend fließendes Wasser zur Verfügung haben. Diese Bäume haben eine dünne Rinde und erleiden bei einem Sturm schnell einen Schaden.
Ein ungehemmtes Streben nach Lebensgenüssen lässt den Menschen schwach und willenlos werden.
Menschen, die keinen größeren Problemen begegnen und das Leben nur von seiner angenehmen Seite kennen, sind innerlich nicht gefestigt und in Wahrheit unglückselig.
In der Daseinsordnung existieren Gutes und Schlechtes, Drangsale und Erleichterungen, Heil und Unheil nebeneinander. Diese Welt wurde nicht geschaffen, damit der Mensch sie genießt, sondern sie ist ein Gemisch von Genuss und Leid, von Freude und Kummer.
Jeder Mensch begegnet im Diesseits in verschiedenem Umfange Härten. Der Mensch erreicht in dieser Welt nie ungetrübtes absolutes Wohl. Das ist ja auch gar nicht das Ziel seiner Erschaffung.
Der iranische Philosoph Schahid Mortazaa Motahhari schreibt in seinem Buch über die göttliche Gerechtigkeit zur Begründung der Härten und Leiden im menschlichen Leben: „Die Welt ist eine Summe von Gegensätzen. Dasein und Nicht-Dasein, Leben und Tod, Bleiben und Vergehen, Gesundheit und Krankheit, Alter und Jugend und schließlich Glück und Unglück begleiten einander in dieser Welt.“
Der Mensch kann – und das ist wichtig – die traurigen Vorkommnisse sogar nutzen und zwar als Vorbereitung auf die Erfolge, die danach eintreten.
Ein Beispiel: Früher sind viele an Epidemien wie die Pest gestorben und dies war ein schwerer Schlag für die Menschheit. Aber dieses Massensterben hat die Gelehrten dazu angeregt, genau der Ursache nachzugehen. So haben sie schließlich die Rolle der Bakterien und Krankheitserreger bei der Verbreitung von Krankheiten feststellen können.
Mit dieser Entdeckung haben sie auch einen Weg zur Vorbeugung gegen ansteckende Krankheiten gefunden und zahllose Menschen vor dem Tod gerettet.
Es lässt sich also sagen, dass auch das Unglück zwei Seiten hat. Einerseits bereitet es Schmerz und Kummer und andererseits hat es zur Folge, dass der Mensch nach einem Weg sucht, um Probleme zu besiegen. Es lässt sich sagen, dass die Errungenschaften des Menschen in der Wissenschaft die Folge dieser Missgeschicke sind und er diese der Existenz von Unglück und Problemen zu verdanken hat.
Der Islam hebt hervor, dass der Mensch aus dem Unglück Lehren ziehen soll. Gott verspricht in der Sure 94 zweimal
hintereinander in den Versen 5 und 6:
„Also, wahrlich, mit der Drangsal geht Erleichterung einher ;
wahrlich, mit der Drangsal geht Erleichterung (einher).“
Wenn wir genauer hinsehen, stellen wir fest, dass die Erleichterung gemäß diesem Koranvers nicht erst nach der Drangsal erfolgt, sondern dass die Erleichterung mit der Drangsal einhergeht, d.h. im Kern der Schwierigkeiten stecken Erleichterungen.
Ajatollah Motahhari erklärt zu dieser Koranstelle: „ Im Kern der Schwierigkeiten und der Missgeschicke liegen Gutes und Glück verborgen. Genauso wie manchmal im Glück, Unglück verborgen liegt. Dies ist die Grundformel für diese Welt.“ Er fügt hinzu: „Es liegt an unserer Reaktion gegenüber dem Segen bzw. dem Unglück, ob es uns wirklich Segen bzw. Leid bringt.“
Segnungen können also auch negative Folgen haben. Es liegt an der richtigen Planung des Menschen. Zum Beispiel sind Regen und Flüsse ein lebenswichtiger Segen für die Menschheit. Wenn der Mensch am Fluss einen Damm errichtet, so kann er Wasser für die Landwirtschaft, die Trinkwasser- und die Stromversorgung gewinnen und speichern. Aber wenn er nicht für die richtige Nutzung dieses Geschenkes in der Natur vorausplant, kann dieser Segen sogar Schäden anrichten. So werden bei einer Flussüberschwemmung eventuell Äcker und Dörfer zerstört und sogar Menschen in den Tod gerissen.
Wir dürfen also nicht denken, dass nach außen hin unschöne Ereignisse den Grundsatz der göttlichen Gerechtigkeit in der Welt verletzen würden. Vielmehr müssen wir wissen, dass alle Erscheinungen auf der Welt auf eine höhere Weisheit zurückgehen. Jeder vernünftige Mensch wird bei genauem Nachdenken über das Dasein erkennen, dass die Welt insgesamt gesehen auf eine Vervollkommnung zustrebt und gefährliche Ereignisse in der Natur keinen Mangel in der Schöpfung oder ein Widerspruch zur göttlichen Gerechtigkeit bilden.