Volkstümliche Erzählungen aus Iran-Teil 20
Im letzten Beitrag, liebe Freunde, hatten wir über die Tierfabeln gesprochen. Es sind volkstümliche Erzählungen, die von allen Bevölkerungs- und Altersgruppen geschätzt werden. Wie wir sagten, haben Schriftsteller und Dichter sie aus dem Volksmund entnommen und wir finden in verschiedenen Kulturen und Sprachen ähnliche Tierfabeln, was für ihre universale Botschaft spricht.
Die Tierfabeln lassen sich nach verschiedenen Gesichtspunkten kategorisieren. Zum Beispiel in einer Gruppe von ihnen sprechen die Tiere nur miteinander, aber sie handeln nicht. Ihr Gespräch endet ohne ausdrückliche Moral als Fazit. Der Erzähler nutzt jedoch die Charakteren der Tierfiguren, um seine eigenen Ansichten vorzustellen. Er legt also den Tierfiguren einer Fabel seine Überlegungen und seine Kritik in den Mund. Das berühmteste Beispiel für diese Art von Tierfabeln ist das Mantiq ut-tair – „Vogelgespräche“ von Attar Neyschaburi.
In einer weiteren Art von Tierfabeln, die uns erhalten blieben, führt das Gespräch zwischen den Tierfiguren zu einem moralischen und konkreten Ergebnis. Der Erzähler entnimmt diesen Tiergeschichten eine Moral und einen erzieherisch wertvollen Punkt.
In einer nächsten Art von Fabeln treten die Tierfiguren in Aktion und verursachen ein Ereignis. Nachdem sie klar festliegende Regeln beachtet oder auch gegen sie verstoßen haben, erhalten sie entsprechend Lohn oder Strafe.
Der Erzähler führt dem Zuhörer die richtige Verhaltensweise vor Augen, indem er über das Schicksal eines Tieres berichtet. In diesen Erzählungen ist vornehmlich von dem Verhalten gegenüber den anderen, insbesondere Feinden die Rede. Es geht meist darum, wie man sich klug gegenüber den anderen, insbesonderen Fremden und Gegnern verhält.
Es lässt sich allgemein feststellen, dass Handlungen je nach Umständen und nach dem Ergebnis unterschiedlich bewertet werden. Wenn zum Beispiel Lüge oder Heuchelei zu Bloßsstellung führt, ist sie verwerflich. Aber wenn eine Lüge jemandem hilft, dass er sich vor dem sicheren Tod rettet, ist sie erlaubt und der Lügner wird nicht getadelt. In vielen Erzählungen erleben wir daher, dass der Held der Geschichte sich durch Lüge und Verstellung aus einer gefährlichen Situation rettet und nicht dafür getadelt wird.
Geschichte vom Geier und Fuchs
Ein Geier und ein Fuchs waren gute Freunde. Eines Tages sagte der Fuchs, der sehr listig war und gerne andere auf den Arm nahm, zum Geier: „ Mein Freund! Den ganzen Tag fliegst du im Himmel herum und siehst nur die Wolken. Komm herunter! Ich will dich auf meinem Rücken tragen und dir den Wald zeigen. Es ist jetzt Frühling und die Bäume sind ergrünt und tragen Blüten.“
Der Geier nahm das Angebot an. Er bestieg den Rücken des Fuches und der Fuchs begann durch den Wald zu laufen. Aber er suchte sich Stellen aus, wo die Bäume besonders dicht neben einander standen, so dass das Gestrüpp das Gefieder des Geiers streifte und ihm eine Feder nach der anderen ausgerissen wurde. Doch der Fuchs lief unbeiirt weiter durch das Dickicht: Erst wurden dem Geier die Federn auf seinen Flügeln abgerissen und dann die Federn auf seinem Leib und schließlich hatte er keine einzige Feder mehr .
Da blieb der Fuchs stehen. Schaute auf den Geier und begann ihn auszulachen.
Nun hatte der Geier also kein Federkleid mehr. Er konnte nicht mehr fliegen und auf die Jagd gehen. Der Fuchs brachte ihm ab und zu ein Paar Reste von seiner Beute. Desöfteren vergass er aber ihm etwas zu bringen, und der Geier musste Spatzennestern nach Küken durchstöbern. So kam er irgendwie über die Runden. Allmählich begannen dem Geier wieder neue Federn zu wachsen. Seine beiden Flügel wurden wieder stark und er konnte wieder fliegen und so geschickt wie früher Beute fangen. So verging einige Zeit, bis der Geier eines Tages zu seinem Freund, dem Fuchs, sagte:
„Mein Freund! Hast du jemals den Wunsch gehegt aus der Höhe des Himmels auf die Erde zu schauen? Von da oben sieht die Erde viel schöner aus. Wenn du möchtest, nehme ich dich mit nach oben!“ Der Fuchs war einverstanden.
Da hob der Geier mit seinen Fängen den Fuchs in die Höhe und trug ihn zum Himmel hinauf.
Weiter oben fragte er den Fuchs: „Wie sieht die Erde von hier oben aus? „Der Fuchs sagte: „O, ganz groß!“ Da flog der Geier noch höher und fragte : „Nun lieber Fuchs! Und von hier aus? Wie sieht sie von hier aus?“
Der Fuchs: „Jetzt sieht sie aus wie eine große Stadt!“
Der Geier flog noch höher und fragte: „Mein lieber Freund? Und jetzt? Wie sieht sie jetzt aus?“
„Jetzt ist sie so groß wie eine Wassermelone“, stellte der Fuchs fest.
Da sagte der Geier: „Nun, dann geh runter, du Held!“
Er öffnete seine Fänge und ließ den Fuchs herunterfallen. Der Fuchs fiel in die Tiefe und durch die Reibung mit der Luft, verlor er alle Fellhaare. Da rief der Geier: „Das geschieht dir ganz recht, du hast mir ja auch meine Federn abgerissen!“
Während der Fuchs herabfiel bat er Gott um Hilfe und rief: „Gott, lass mich auf ein Fell oder auf irgendetwas Weichem landen!“
Gott erhörte sein Gebet.
Gerade wollte ein Bauer neben seinem Feld frühstücken. Er hatte seinen Fellmantel neben sich gelegt und Brot und Käse ausgepackt. Da sah er genau über seinem Kopf etwas vom Himmel herabfallen. Ängstlich ließ er Fellmantel und Frückstück liegen und rannte davon. Der Fuchs aber landete auf dem weichen Pelz und fand Rettung. Als er sich von dem Schreck erholte hatte, fraß er Brot und Käse auf, zog sich den Pelzmantel an und ging in den Wald.
Unterwegs begegnete er dem Löwen. Der Löwe fragte ihn: „Woher hast du diesen Pelz?“
Da sagte der Fuchs: „Weißt du denn nicht, dass ich Pelzmäntel nähe?“
Der Löwe wunderte sich erst. Dann bat er den Fuchs, er solle ihm auch einen solchen Mantel anfertigen.
Der Fuchs sagte: „Bring mir fünf fette Hirsche und lass mir eine Woche Zeit. In einer Woche wird der Pelzmantel für dich fertig sein.“
Da brachte ihm der Löwe fünf Hirsche und der Fuchs verspeiste sie zusammen mit der Füchsin und seinen Welpen.
Nach einer Woche fragte der Löwe, als er den Fuchs sah: „Wo ist mein Pelzmantel?“ Der Fuchs sagte: „Ich brauche noch zwei Lämmer, damit ich die Gürtel und Ärmel anfertigen kann.“
Da schaffte der Löwe zwei Lämmer herbei und der Fuchs verspeiste zusammen mit seiner Familie auch die beiden Lämmer.
Bald darauf sah der Fuchs plötzlich den Löwen vor sich. Der brüllte: „Wo ist der Pelzmantel? Meine Geduld ist zu Ende. Entweder du gibst mir den Pelzmantel, oder ich verschlinge dich.“
Der Fuchs aber sagte: „O König der Tiere, der Pelzmantel ist bei mir zu Hause. Komm mit. Ich gebe ihn dir!“
Löwe und Fuchs gingen zum Fuchsbau. Doch plötzlich ergriff der Fuchs die Flucht. Er wollte in seinem Bau verschwinden, als der Löwe gerade noch seinen Schwanz zu fassen bekam. Der Löwe riss dem Fuchs den Schwanz ab .
Der Fuchs entkam. Aber er hörte den Löwen brüllen: „Ich werde dich überall, wo du auftauchst, daran erkennen, dass du keinen Schwanz mehr hast.“
Am nächsten Tag kam der Fuchs wieder aus seinem Bau. Er lud seine Freunde in einen Traubengarten ein. Als die anderen Füchse auf den Bäumen damit beschäftigt waren, Trauben zu essen, schlich er heran und band jedem Fuchs den Schwanz am Baum fest. Dann sagte er dem Besitzer des Gartens Bescheid. Der eilte mit einem Knüppel herbei. Als die Füchse flüchten wollten, verloren sie alle ihren Schwanz.
Es war gegen Mittag, als der Löwe plötzlich dem Fuchs in die Quere kam: „Jetzt habe ich dich erwischt, du Fuchs ohne Schwanz!“
Aber der Fuchs lachte und rief alle Füchse herbei. Die kamen,und der Löwe sah, dass keiner der Füchse einen Schwanz hatte. Da wusste er nicht, wer der Fuchs war, der ihn reingelegt und dem er für den versprochenen Pelzmantel so viele Beutetiere gegeben hatte. Also schimpfte der Löwe : „ Du durchtriebener Kerl. Bei Gott, keiner kann so listig sein wie du!“
Und seitdem passte der Löwe besser darauf auf, dass ihn nicht noch andere listige Leute wie der Fuchs hinters Licht führen.