Islam richtig kennenlernen (92)
Im 10. Jahr nach der Hidschra (um 632 nach Christus) verbreitete sich in Medina und Umgebung die Nachricht, dass der Prophet auf die Hadschreise gehen will und alle Muslime eingeladen hat, ihn zu begleiten. Bald trafen scharenweise Gläubige in Medina ein, um sich auf dieser spirituellen Reise der höchsten Persönlichkeit des Islams anzuschließen. Keiner ahnte, dass es die letzte Hadschreise des Propheten sein wird und zu welchem wichtigen Ereignis es während dieser Reise kommt.
Eine riesige Pilgerkarawane setzte sich, angeführt vom Propheten (der Segen Gottes sei auf ihm und seinem Hause) von Medina aus in Richtung Mekka in Bewegung. Der Prophet legte in dem Gebiet Dhul-Halifa (Dschadschara-Moschee) das Pilgergewand an und gab mit den Labaik-Rufen kund, dass er die Einladung Gottes zum Hadsch angenommen hat. Alle Muslimen folgten seinem Beispiel. Es dauerte einige Tage bis die Pilgerkarawane den Weg nach Mekka zurückgelegt hatte. Der Prophet vollzog dort die Umschreitung der Kaaba, verrichtete in der Heiligen Moschee das zum Hadschritual gehörende Gebet und das Ritual des Sa`is – (Anstrengung) zwischen den Anhöhen Safa und Marwa und anschließend die weiteren Riten für den Hadsch in Arafat, Maschar und Mina. Mit den Pilgern verbrachte er in Andacht in Arafat und Maschar und suchte zum Opferfest Mina auf, um dort nach der symbolischen Steinigung Satans in Form des Rami Dschamara, ein Kamel zu opfern und danach die restlichen Hadsch-Gebote zu erfüllen. Während des Vollzugs der Hadsch-Riten war der Prophet darum bemüht diesen heiligen Brauch aus der Zeit Abrahamas von allem Aberglauben, der ihm angedichtet worden war, zu befreien und den Menschen den wahren von jeder Verunreinigung freien Hadsch vorzustellen. Nach Abschluss des Hadsches machten sich die Pilger zum Hause Gottes wieder auf den Rückweg. In jener weiten Wüstenebene war in der Ferne eine kleine Oase zu sehen, in der es einige Bäume gab. Es war ein Ort, der sich Ghadir Chum nannte und zwischen Mekka und Medina lag. An diesem Ort wollte die große Pilgerkarawane anhalten, um sich auszuruhen. Inmitten des Lärms der Kamelschellen, der Pferdehufe und der Menschen in der Karawane war der Prophet auf dem Weg zur Oase, in sich versunken und schien auf ein wichtiges Ereignis zu warten.
Schließlich erreichten sie die Oase.
Ghadir Chum war der Ort an dem sich die Karawanen aus Irak, Ägypten, Großsyrien (Schaam) und Medina voneinander trennen mussten, um jeweils in die eigene Richtung weiterzuziehen. Der Prophet Gottes wurde plötzlich die Gegenwart des Offenbarungsengels Dschibril (Gabriel) gewahr. Gottes Bote teilte dem Propheten die folgende Anweisung Gottes mit, die im Vers 67 der Sure 5 (Maida) festgehalten wurde, nämlich: … O du Gesandter, übermittele (vollständig), was zu dir (als Offenbarung) von deinem Herrn herabgesandt worden ist! Wenn du es nicht tust, so hast du Seine Botschaft nicht übermittelt. Gott wird dich vor den Menschen schützen. …“
Aufgrund dieser himmlischen Botschaft verspürte der Prophet eine große Pflicht und bereitete sich darauf vor den Menschen, etwas Wichtiges mitzuteilen. Er ordnete in Ghadir Chum an, dass alle die bereits den Ort verlassen hatten, um ihrer Karawane voraus zu reiten, wieder zurückkehren und jene, die den Ort noch nicht erreicht hatten, sich beeilen sollten. Schließlich waren alle Pilger nahe dem Brunnen von Ghadir in jener heißen Wüstenebene versammelt und warteten ungeduldig darauf, was geschehen wird und zu erfahren, warum der Prophet alle an diesem Ort um sich geschart hatte. Es war am Mittag des 18. im Monat Dhu-l Hidscha im 10. Jahr nach der Hidschra und sehr heiß. Aus dem Reitgeschirr der Kamele wurde eine provisorische Kanzel aufgebaut, die der Prophet bestieg, um seine historische Rede vor der großen Menschenmenge, die mehr als Hunderttausend betrug, zu halten. Er sprach:
„Aller Lobpreis und Dank gebühren Gott! Ich bitte Ihn, an den ich glaube und in den ich vertraue, um Beistand und suche Zuflucht vor dem Schlechten und unwürdigen Taten bei Ihm - bei Gott, außer dem es keinen Wegweiser und Rechtleiter gibt. Keinen, den Er rechtleitet, kann jemand in die Irre führen. Ich bezeuge, dass es außer Ihm keinen Gott gibt und Mohammad Sein Diener und Prophet ist. Ihr Menschen! Bald werde ich den Ruf Gottes beantworten und euch verlassen. Wir alle tragen eine Verantwortung! Habe ich euch meine Botschaft nicht überbracht?“
Die Pilgermenge rief: Doch! Das hast du! Wir bekennen dass du deinen Auftrag erfüllt, uns guten Rat gegeben und dich auf dem Wege Gottes abgemüht hast. Gott möge dir einen guten Lohn geben. Der Prophet sprach: „Bezeugt ihr, dass es nur einen Gott gibt und Mohammad Sein Diener und Gesandter ist und gewiss ist, dass es die Paradies und Hölle und das ewige Leben in einer anderen Welt gibt?“ Alle bezeugten es. Da sagte er:
„Ihr Menschen, ich hinterlasse euch zwei Kostbarkeiten. Schaut, wie ihr mit diesen beiden Erinnerungen an mich umgeht!“
Da fragte jemand: „Was ist mit diesen zwei Kostbarkeiten gemeint?“
Der Prophet antwortete: „Die eine ist das Buch Gottes und die andere ist meine Ahl-e Bait (meine Familie). Gott hat mich wissen lassen, dass diese beiden Hinterlassenschaften niemals voneinander getrennt werden. Ihr Menschen! Hört was ich sage und denkt darüber nach. Jeder Muslim ist dem anderen Muslim ein Bruder und alle Muslime auf der Welt sind einander Brüder. Die Besitzergreifung vom Besitz der Muslime ist einem Muslim nicht erlaubt, es sei denn er hat es mit ruhigem Gewissen erworben. Ihr Menschen, die Anwesenden sollen es den Abwesenden berichten, dass nach mir kein weiterer Prophet sein wird … ihr Menschen ich habe heute alle Zeremonien und Ansichten aus der Zeit der Ignoranz unter meinen Füßen zerdrückt und verkünde euch, dass sie falsch und ungültig sind. Ihr Menschen, eilt nicht dem Koran und meine Itrat (Familie) voraus und versäumt in euren Taten nichts gegenüber diesen beiden, denn dann werdet ihr vernichtet werden.“
Der Prophet schwieg kurz nach dieser Ansprache und dann hielt er die Hand von Ali in die Höhe, die Hand seines treuen Helfers, der mit dem Propheten durch Freud und Leid gegangen war. Der Prophet sprach: „Ihr Leute! Wer ist im Vergleich zu den anderen Gläubigen würdiger als sie?“ Die anderen riefen: „Gott und Sein Prophet wissen es besser!“ Da verkündete Prophet Mohammad (s): „Gott ist mein Herr und Freund und ich bin der Herr und Freund der Gläubigen. Jeder, dem ich Herr und Freund ist, dem ist hiermit auch Ali Herr und Freund. O Gott! Sei seinen Freunden freund und seinen Feinden feind.“
Der Prophet sagte dies drei Mal und auf diese Weise gab er klar bekannt, dass Ali sein Nachfolger sein wird. Der Prophet (S) bat alle Großen der Muhadschirin (Auswanderer) und der Ansar (Helfer) dass sie Ali beglückwünschen. Danach kamen alle, die den Propheten auf der Hadschreise begleitet hatten, gratulierten Ali und sie versprachen gruppenweise, dass sie Ali als Nachfolger des Propheten und Imam (Vorsteher) treu bleiben werden. Noch bevor sich dann alle auf den Weg in Richtung ihrer Heimat machten, kam folgender göttlicher Satz aus dem Vers 3 der Sure 5 (Maida) auf den Propheten herab:
„…Heute haben diejenigen, die ungläubig sind, hinsichtlich eurer Religion die Hoffnung aufgegeben. So fürchtet nicht sie, sondern fürchtet Mich! Heute habe Ich euch eure Religion vervollkommnet und Meine Gunst an euch vollendet, und Ich bin mit dem Islam als Religion für euch zufrieden. – „
In zahlreichen Überlieferungen, die Sunniten und Schiiten in ihren Büchern stehen haben, heißt es dass der obige Koranvers am Ghadir-Chum Tag geoffenbart wurde, nachdem der Propheten Ali (F) als Nachfolger vorgestellt hatte. Zum Beispiel überliefert Ibn Dscharir Al Tabari in seinem Werk Welayat eine diesbezügliche Bestätigung seitens Zaid Ibn Arqam, einem bekannten Prophetengefährten.
Am Ghadir Chum Tag mussten die Ungläubigen die Hoffnung aufgeben, dass nach dem Ableben des Propheten der Islam untergehen werde, denn jemand wie Ali würde seine Nachfolge antreten, d.h. jemand der nach dem Propheten das meiste Wissen besaß und der gottesfürchtigste und gerechteste von allen war. Er würde durch seine würdige Lenkung die Pläne des Islams weiterführen und ergänzen. Bei dem Ereignis von Ghadir war der Prophet des Islams seitens Gott beauftragt worden, einen Nachfolger und neuen Führer für die Menschen vorzustellen, damit nach ihm die Islamische Gemeinde nicht durch Auseinandersetzungen um die Führerschaft zerrüttet wird. Der Islam als die letzte und umfassendste Religionslehre Gottes besitzt ja die Kapazität, der Menschheit bis ans Ende der Welt den Weg zu zeigen. Daher musste der Prophet für die Zeit der islamischen Gemeinde nach ihm planen und hat, vor der großen Versammlung der Muslime in Ghadir Chum, Ali als seinen Nachfolger vorgestellt. Er bestimmte Ali (F) wegen seiner hohen Tugenden zu seinem Nachfolger. Alle wussten wie klug und gerecht und mutig Ali (F) war und dass er fester im Glauben war als jeder andere Gläubige. Alle kannten seine großartige Fähigkeit sich auszudrücken und dass er ein offenes Ohr für die Unterdrückten und Bedürftigen hatte und das Sinnbild des Guten und der Rechtschaffenheit war.
Das Ereignis von Ghadir Chum ist zuverlässig in der Islamischen Geschichte belegt. Die meisten historischen Schriften und Kommentare der Sunniten und Schiiten haben auf das Geschehen hingewiesen und bestätigen, dass Ali vom Propheten als Nachfolger vorgestellt wurde. Mehr als 350 sunnitische Gelehrten und Hadithologen, wie Tabari, Ibn Athir und Ahmad Ibn Hanbal überliefern die Geschichte von Ghadir und berufen sich auf 110 Gefährten des Propheten als Gewährsmänner. Das Geschehen von Ghadir galt der Fortsetzung des Islams und dokumentiert, dass die Führung der Gesellschaft in der Hand von rechtschaffenen, würdigen, erfahrenen und gottesfürchtigen Menschen liegen muss.