Wir beschäftigen uns mit der Frage, welche Voraussetzungen für das Wachstum moralischer Werte erfüllt sein müssen.

Wir haben beim letzten Mal drei Grundzüge der islamischen Ethik genannt, nämlich Ausgewogenheit, Vielseitigkeit und höchste Zielsetzung. Das bedeutet, dass der Mensch sich charakterlich in ausgewogener Form allseitig weiterentwickeln und die höchsten Stufen der moralischen Werte erreichen soll.  

Keine der anderen Morallehren vereinen alle diese charakteristischen Merkmale, erst recht nicht wenn wir der Palette dieser drei Grundzüge noch die religiöse Motivierung   hinzufügen und uns bewusst werden, dass die moralischen Werte dann erst zählen, wenn sie für Gott errungen werden. In dem Moment ist wirklich nicht mehr daran zu zweifeln, dass die islamische Ethik in ihrer Vollkommenheit und Reinheit  alle anderen Morallehren überragt. Denn in ihr ist nichts  von persönlicher, nationalistisch, ethnisch und geografisch gefärbter Motivation, und nichts von Heuchelei und Täuschung  zu verspüren.  

Ein anderer wichtiger Punkt, der jedoch bei der Beurteilung von Morallehren weniger Beachtung findet, ist die Tatsache, dass für das Anerziehen  und die Entfaltung der guten moralischen Werte die notwendigen und geeigneten   Voraussetzungen vorliegen müssen.  Dies muss bei allem ernsthaft berücksichtigt werden, um optimalen Erfolg zu erzielen.

Wenn eine Gesellschaft zum Beispiel möchte, dass ihre Mitglieder im Bereich Wissen und höhere Ausbildung weiterkommen, muss sie alle Bedingungen dafür bereitstellen: Zentren für Wissenschaft und Forschung einrichten, versierte Lehrpersonen auswählen, Lehrbücher bereitstellen, die auf dem neusten Stand der Wissenschaft sind, geeignete Räumlichkeiten bauen und ein ausreichendes Budget bereitstellen. Dann kann sie auf dem Gebiete der Wissenschaft mit anderen konkurrieren und sie eventuell überholen. 

 Ein anderes Beispiel liegt vor, wenn ein Land in Bezug auf landwirtschaftliche Produkte Autarkie erreichen oder seine Unabhängigkeit auf diesem Sektor bewahren will.  Dann muss dieses Land alle geeigneten Voraussetzungen  dafür bereitstellen, wie fruchtbaren Boden, moderne Geräte und ein gutes Bewässerungssystem. Außerdem müssen Saatgut und Pflanzentriebe gut sein. Die Landwirte müssen Anleitung erfahren und es müssen kompetente Sachverständige mit Erfahrung bereitstehen. Dann kann dieses Land qualitativ und quantitativ seinen Bedarf selber decken und sich aus der Fremdabhängigkeit befreien.

Nach dieser Einleitung ist zu sagen, dass sich erst dann in einer Gesellschaftsordnung würdige moralische Eigenschaften und Werte entfalten können und von ihren Mitgliedern ein gutes moralisches Verhalten und Vorgehen erwartet werden kann, wenn in jeder Hinsicht die geeigneten politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Grundlagen vorliegen. Das ist genau der Grund dafür, dass gemäß dem wahren Islam, dem Islam des Propheten (S), Personen in der politischen Ordnung die Macht übernehmen müssen, die einen festen Glauben haben,  dem Islam folgen und sich nach Gott richten, damit sie sich nicht zu Dingen verleiten lassen, die  Machtgierige anstreben; damit sie nicht Launen und diabolischen Verführungen gehorchen, nicht auf den Gedanken kommen, vom nationalen Eigentum an sich zu reißen und Reichtum anzuhäufen, kurzum: damit nicht die Macht ihr Ziel ist sondern damit sie in der Macht ein Mittel sehen, um Gerechtigkeit herzustellen und Benachteiligungen und Unheil zu bekämpfen.

Zweifelsohne spielt  das Vorgehen der Staatsführung   eine entscheidende Rolle für das Wachstum moralischer oder amoralischer Werte. Deshalb heißt es in der islamischen Überlieferung: الناسُ علی دین ملوکهم 

 Diese Überlieferung beinhaltet, dass sich ein Volk im Leben nach dem Vorbild seiner  Regenten richtet. Das bedeutet:

 Wenn die Regenten eine Verkörperung von Reinheit und Tugend und moralischer und menschlicher Würde sind, werden auch die Bürger nach guten Eigenschaften streben. Sollten jedoch die Herrscher Verdorbenheit verkörpern, entwickelt sich auch die Allgemeinheit in diese Richtung  und verbringt ihr Leben in einer Atmosphäre voller Anti-Werte.

 In einer Gesellschaft färben die Ansichten und Neigungen ihrer Regierungsverantwortlichen dermaßen auf die Allgemeinheit ab, dass es in einer Überlieferung  heißt:  „Die Menschen ähneln ihren Regenten hinsichtlich ihrer Standpunkte und ihrem Verhalten mehr als ihren Vätern.“  

Ein weiterer wichtiger Faktor, der eine grundlegende  Rolle bei der Schaffung der notwendigen Voraussetzungen für eine heile Gesellschaft spielen, ist die Kultur. Die Kultur ist die Summe der Sitten und Bräuche und des Lebensstils in einer Gesellschaftsordnung, welche als die Grundpfeiler für die Gestaltung einer Gesellschaft gelten, alle individuellen und gesellschaftlichen Zielsetzungen beeinflussen und richtunggebend sind. Dadurch kommt der kulturellen Unabhängigkeit eine besondere Bedeutung zu. Diejenige Gesellschaft ist erfolgreich, die gegenüber den Kulturattacken von Fremdmächten wachsam bleibt und darauf achtet, die Hoheit ihrer kulturellen Unabhängigkeit und Identität zu verteidigen und  entschieden die Infiltration  der Kultur des Feindes zu verhüten.  Eine Gesellschaft, die nicht darauf achtet ihre kulturelle Unabhängigkeit zu bewahren, wird mit der Zeit ihre eigene Identität verlieren. Das ist genau das, was in unserer Zeit in einigen östlichen Ländern, die eine wertvolle alte Vergangenheit und Zivilisation besitzen, deutlich festzustellen ist. In diesen Ländern ist die junge Generation dermaßen von der Kultur des Westens beeinflusst worden, dass sie ihre Richtlinien fürs Leben aufgrund der westlichen Muster festlegt. Die Jugend dieser Länder ist so sehr in die Vergnügungswelt nach westlichem Vorbild versunken,  dass die   Voraussetzungen für die Entfaltung der  kulturellen Werte der eigenen Gesellschaft nicht mehr erfüllt werden.  Daher ist nicht daran zu zweifeln, dass jede Gesellschaft kulturell unabhängig sein muss, damit die moralischen Werte in ihr zur Entfaltung kommen.  Wir werden dieses Thema beim nächsten Mal erneut aufgreifen.