Moral – islamisch gesehen (20 - Gerechtigkeit )
Ein weiterer Eckpfeiler der allgemeinen Moral, die Einheit und Frieden mit sich bringt, ist das Prinzip der Gerechtigkeit.
Friede und Einheit sind zwei wichtige Faktoren für die Moral auf gesellschaftlicher Ebene. Wenn der Gesellschaft der Geist der Einheit eingehaucht wird, wächst in ihr von selber die Kultur der Freundschaft und des friedlichen Zusammenlebens. Ein weiterer Eckpfeiler für eine Allgemeinmoral, der in engem Zusammenhang mit Einheit und Frieden steht, ist das Prinzip der Idalat – der Gerechtigkeit. In jedem System, in dem Gerechtigkeit herrscht, wird auch der Wunsch nach Frieden und Konvergenz aufkommen. Adl – Gerechtigkeit – bedeutet nämlich dass jeder genau den Platz einnimmt, der ihm gebührt. Und weil in diesem Falle nirgendwo mehr etwas von Benachteiligung oder Rechtsverletzungen zu spüren ist, werden alle Voraussetzungen für die Herstellung von Einheit und Frieden und Sicherheit vorliegen.
In der islamischen Kultur nimmt “Adl” – die Gerechtigkeit - einen bedeutenden Platz ein, sowohl in der Schöpfungsordnung als auch in der islamischen Gesetzesordnung. Imam Ali (Friede sei ihm), ein vollständiges Sinnbild für die Gerechtigkeitsliebe, sagt:
„Die Gerechtigkeit ist eine Grundlage auf der die gesamte Schöpfungswelt fest aufgebaut wurde.“
Wenn es in der Daseinswelt diese erstaunliche Ordnung und Harmonie gibt, so deshalb, weil jedes Ding seinen eigenen, eine spezifische Aufgabe erfüllenden Platz einnimmt. Dank dieser Adl-i Takwini - die Gerechtigkeit in der Schöpfung - genießen alle Dinge in der Schöpfung ein allgemeines Gleichgewicht und dieses Gleichgewicht in der Schöpfung erlaubt es auch allen Menschen auf der Welt, in Ruhe und Sicherheit zu verbringen. Gott, der die Welt aufgrund der Gerechtigkeit erschaffen hat, stellte nicht nur in der Schöpfung eine gerechte Ordnung her, sondern lässt auch die Gerechtigkeit Mittelpunkt Seiner Gebote sein. Er sagt in der Sure 16, Nahl, im Vers 90:
Allah gebietet Gerechtigkeit und Güte
Imam Ali (F), den der libanesische christliche Schriftsteller George Jordac „die Stimme der menschlichen Gerechtigkeit“ in der menschlichen Welt“ nennt, hat, inspiriert vom Wort Gottes über den Sinn der Gerechtigkeit und ihre Rolle gesagt:
„Gott, der Gepriesene, hat die Gerechtigkeit dazu bestimmt, das Leben der Menschen zu festigen und zu erhalten. Denn sie führt zur Abstinenz von der Verletzung von Rechten und von Unterdrückung und Unrecht und dem Sündigen und ist ein Wegbereiter für den Islam.“
(Ghurar al Hikam 47 89)
Die Beständigkeit einer Ordnung hängt also zweifelsohne von der Gerechtigkeit ab, da in einer gerechten Ordnung kein Unrecht geschieht. In einer gerechten Ordnung herrscht eine geeignete Atmosphäre und sind die geeigneten Bedingungen für das Wachstum des Islams vorhanden. In einer gerechten islamischen Ordnung darf also unter keinen Umständen und unter welchen Vorwand auch immer die Gesellschaft den Weg der Gerechtigkeit verlassen.
Gott nennt die Verwirklichung der Gerechtigkeit eine Pflicht, die besonders denen obliegt, die fest und wahrhaftig an den Islam glauben. Daher spricht er zu ihnen im Vers 8 der Sure 5 (Maida):
یَا أَیُّهَا الَّذِینَ آمَنُوا کُونُوا قَوَّامِینَ لِلَّهِ شُهَدَاءَ بِالْقِسْطِ ۖ وَلَا یَجْرِمَنَّکُمْ شَنَآنُ قَوْمٍ عَلَىٰ أَلَّا تَعْدِلُوا ۚ اعْدِلُوا هُوَ أَقْرَبُ لِلتَّقْوَىٰ ۖ وَاتَّقُوا اللَّهَ ۚ إِنَّ اللَّهَ خَبِیرٌ بِمَا تَعْمَلُونَ
O die ihr glaubt, seid (in allen Angelegenheiten) Wahrer (der Sache) Allahs als Zeugen für die Gerechtigkeit. Und der Hass, den ihr gegen (bestimmte) Leute hegt, soll euch ja nicht dazu bringen, dass ihr nicht gerecht handelt. Handelt gerecht. Das kommt der Gottesfurcht näher. Und fürchtet (den Ungehorsam gegenüber) Allah (der die Gerechtigkeit geboten hat). Gewiss, Allah ist kundig dessen, was ihr tut.
Die Gerechtigkeit ist ein breiter Weg, den alle – ungeachtet jeglicher Privilegien – gehen müssen. Mit anderen Worten ist niemand, egal welche politische oder gesellschaftliche oder wirtschaftliche Position er besitzt, berechtigt, gegen das Prinzip der Gerechtigkeit zu verstoßen. Dies gilt insbesondere für eine gerechte islamische Gesellschafts- und Staatsordnung. Denn in einer solchen müssen alle gottesfürchtig handeln und davon überzeugt sein, dass Gott alle ihre Taten sieht und über alles im Bilde ist. In dieser idealen Ordnung glaubt jeder daran, dass er am Jüngsten Tag gemäß der göttlichen Gerechtigkeit Rechenschaft über seine Taten ablegen muss. Er weiß, es wird ein Gericht geben, vor dem auch die kleinsten guten und schlechten Taten sich manifestieren werden und vor dem keine Rechtfertigungen für Böses möglich sind.
Ungerechtigkeit bedeutet den Weg der Gerechtigkeit verlassen. Sie gefällt niemanden, während die Gerechtigkeit im Gegenteil dazu, weil sie in der Ur-Seele aller Menschen verankert ist, allgemein begrüßt und geliebt wird. Imam Sadiq (Friede sei ihm) hat den wünschenswerten Segen der Gerechtigkeit für den Menschen wie folgt umschrieben:
„Gerechtigkeit ist süßer als Honig, weicher als Butter und wohlriechender als Moschus.“
Kafi Bd. 2, Seite 147
Natürlich darf die Forderung nach Gerechtigkeit keine leere Parole sein und instrumentalisiert werden. Die Menschen kommen erst dann in den Genuss von Gerechtigkeit, wenn sie in ihrem Leben spürbar wird und sie im gesellschaftlichen Leben Zeuge von konkreten Beispiele für die Gerechtigkeit werden. Dies ist eine Tatsache und daher betont Gott die Praktizierung der Gerechtigkeit und spricht im Vers 58 der Sure 4 (Nisa):
" إِنَّ اللَّهَ یَأْمُرُکُمْ أَنْ تُؤَدُّوا الْأَمَانَاتِ إِلَىٰ أَهْلِهَا وَإِذَا حَکَمْتُمْ بَیْنَ النَّاسِ أَنْ تَحْکُمُوا بِالْعَدْلِ ۚ إِنَّ اللَّهَ نِعِمَّا یَعِظُکُمْ بِهِ ۗ إِنَّ اللَّهَ کَانَ سَمِیعًا بَصِیرًا":
Allah befiehlt euch, ..., wenn ihr zwischen den Menschen richtet (und über sie regiert) , in Gerechtigkeit zu richten (und zu regieren). Wie trefflich (und wertvoll) ist das, womit Allah euch ermahnt! Gewiss, Allah ist Allhörend und Allsehend
Nicht nur in der Politik und der Gerichtsbarkeit sondern auf allen Ebenen des gesellschaftlichen Lebens soll Gerechtigkeit zur Geltung kommen: auf kultureller, wissenschaftlicher und Bildungsebene ebenso wie in der Wirtschaft.
Ein weiterer wichtiger Punkt lautet, dass erst dann die Gerechtigkeit von der Allgemeinheit als wahr empfunden und ernst genommen wird, wenn die Verantwortlichen an der Spitze alle gerecht vorgehen. Nur dann kann die Gerechtigkeit ihre besondere Bedeutung gewinnen und in der Gesellschaft verankert werden. Als Imam Ali (F) nach langen Jahren, in dem ihm die Statthalterschaft des Propheten vorenthalten worden war, schließlich auf Drängen des Volkes die Zügel in die Hand nahm, wollte eine opportunistische Gruppe ihn dazu bringen, dass er auf Gerechtigkeit verzichtet, damit er seine Position festigt. Er aber sagte unbeirrt und klar:
„Befiehlt ihr mir, dass ich Erfolg suche, in dem ich diejenigen unterdrücke, über die ich als Sachwalter eingesetzt wurde? Ihr verlangt von mir, dass ich die Gerechtigkeit zu Füßen der Politik und Herrschaft opfere? Bei Allah, ich werde mich dem nicht nähern, so lange die Zeit läuft und solange ein Stern den anderen verfolgt! ...“
Dies entnehmen wir der 126. Predigt Alis im Nahdschul- Balagha.