Volkstümliche Erzählungen aus Iran Teil 1
Die Märchen und Geschichten, die der Volksmund überliefert hat, gehören zu den ältesten literarischen Quellen jeden Landes und spiegeln Ideale, Überzeugungen und Bräuche eines Volkes wieder. In unserer neuen Reihe Volkstümliche Erzählungen aus Iran öffnen wir die Schatztruhe der Kultur iranischer Volksüberlieferung.
Ein Teil der iranischen Volksliteratur wurde zum Glück schriftlich festgehalten wie Weisheiten und Fabeln, Volkslieder und Märchen, Elegien und Heldenepen. Wir haben für unsere Sendung die Volksmärchen und -erzählungen ausgewählt und dabei Geschichten mit lehrreichem Inhalt den Vorzug gegeben. Für heute haben wir ein Märchen aus dem Buch „Tausend und Eine Nacht“ ausgesucht.
Ein König namens Malak Yunan waltete und schaltete in einem großen Land. Dieser König war an einem Hautleiden erkrankt und es gab keinen Arzt im Lande, der ihn heilen konnte. Darüber war Malak Yunan sehr bekümmert.
Da traf aus einem anderen Land ein alter erfahrener Mann namens Hakim Ruyan ein. Er war Arzt. Als er von der Krankheit des Königs erfuhr, sprach er bei ihm vor und kündigte an, dass er den König in kürzester Zeit ohne jede Medizin heilen werde.
Malak Yunan war über die gute Nachricht hocherfreut: „Wenn es stimmt, was du sagst, werde ich dich reichlich beschenken.“ Hakim Ruyan verbeugte sich und versprach am nächsten Tag wiederzukommen.
Am nächsten Tag brachte Hakim Ruyan eine Kugel und einen Schläger mit, wie sie beim Pferedepolo üblich waren. Dann sagte er zum König:
„Besteig dein Pferd und zieh auf den Poloplatz. Du solltest so lange Polo spielen, bis deine Arme geschmeidig geworden sind. Dann kehr in den Palast zurück, nimm ein Bad und schrubbe die Haut gut ab. Danach solltest du dich schlafen legen. Wenn du aufwachst, wirst du wieder gesund sein.“
Malak Yunan führte alles genau nach Anweisung von Hakim Ruyan durch. Als er aus dem Schlaf aufwachte, war er geheilt. Da jubelte er und ließ Hakim Ruyan kommen. Als dieser den Saal betrat, ging der König auf ihn zu und umarmte ihn: „O du bist ein Meister! Ich verdanke dir meine Heilung!“
Dann wies er ihn an, sich neben ihn zu setzen und ließ köstliche Speisen für ihn bringen.
Außerdem bedachte er ihn mit einem Beutel voller Goldmünzen und weiteren kostbaren Geschenken.
Der Hakim, so hießen die Weisen und Ärzte früher, bedankte sich und betete für ein langes Leben des Königs. Der König bat ihn, am nächsten Tag wieder zu kommen. Auf diese Weise wurden Malak Yunan und Hakim Ruyan gute Freunde.
Aber Malak Yunan hatte auch einen Minister und der war neidisch geworden.
Der Wezir , wie Minister sich damals nannten, ärgerte sich über die Gunst, die der König dem Hakim erwies, und überlegte, wie er den Hakim beim Schah – dem König nämlich – schlecht machen kann. Schließlich ging er zu Malak Yunan und sagte: „Eure Majestät! Ich meine es gut mich Euch, deshalb ist es meine Pflicht, Euch vor einer großen Gefahr zu warnen!“
Malak Yunan fragte verwundert: „Welche Gefahr denn, Wezir?“ Der Minister antwortete: „Ich sehe, dass ihr seit einiger Zeit jemanden, der Euer Erzfeind ist, Freundschaft und Gunst erweist. Das wird kein gutes Ende nehmen!“
Der Schah sprang auf: „Mein Erzfeind? Wer ist das?“
Der Minister: „Es ist kein anderer als dieser Hakim Ruyan! Er plant euren Tod!“
Der König rief aufgebracht: „Was redest du da, Wezir? Dieser Arzt hat mich von einem schweren Leiden erlöst. Selbst wenn ich ihm meinen ganzen Reichtum schenke, reicht es nicht aus, das wieder gut zu machen. Oh! Ich weiß. Die bist neidisch auf ihn! Du willst, dass ich ihn hinrichten lasse!“
Der Minister sagte listig: „Aber nein, Majestät! Ich will nur Euer Bestes und deshalb halte ich daran fest: Hakim Ruyan hat es auf Eurer Leben abgesehen. Wenn Ihr ihn nicht umbringt, so wird er Euch umbringen.“
Nun war Malak Yunan doch nachdenklich geworden. Schließlich sagte er zu seinem Wezir: „Vielleicht hast du Recht. Er besitzt wirklich besondere Kräfte. So mir nichts dir nichts hat er meine schwere Krankheit geheilt. Es wird ihm auch nicht schwerfallen, mich umzubringen.“
Der Wezir stellte zufrieden fest, dass seine Worte auf den König gewirkt hatten. Er sagte: „Ich freue mich, dass Ihr die Gefahr, die euch droht, erkannt habt, Majestät.“
Malak Yunan befahl, Hakim Ruyan zu holen.
Hakim Ruyan wusste nicht, weshalb ihn der König hatte kommen lassen. Der aber rief erzürnt: „Ich werde dich hinrichten lassen!“
Hakim Ruyan fragte böse überrascht: „Hinrichten? Warum denn das? Was habe ich verbrochen?“
Malak Yunan: „Das weißt du selber am besten! Du bist ein Spion und willst mich umbringen!“
Dann ließ er den Henker holen.
Hakim Ruyan aber bat um Gnade:“O König! Wird Gutes mit Schlechtem belohnt?“
Der König aber sagte: „Wenn ich dich nicht töte, wirst du mich töten!“
Der Henker wartete auf den Befehl des Königs. Hakim Ruyan aber rief: Seid gnädig. Ich bin unschuldig!
Doch der Schah achtete nicht auf seine Beteuerungen und wollte gerade seinen Befehl ausgeben, als einige vom Hofe des Königs baten, er solle den Hakim begnadigen. Doch Malak Yunan war blind vor Zorn: „Habt ihr nicht gesehen, wie schnell er mich geheilt hat. Genauso schnell kann er mich auch töten!“
Da wusste Hakim Ruyan, dass der König nicht von seinem Entschluss abzubringen ist. Es kam ihm aber noch eine List in den Sinn und er rief dem König zu:
„Ich bin auf den Tod vorbereitet. Erfüllt mir aber noch eine Bitte! Erlaubt, dass ich nach Hause gehe und ein Testament schreibe. Ich habe ein wertvolles Buch, dass ich Euch schenken will.“
Malak Yunan: „Was für ein Buch?!“
Hakim Ruyan: „Ein Buch von großem Nutzen! Wenn ihr nach meinem Tod dieses Buch öffnet und drei Zeilen auf der linken Seite lest, wird mein abgeschlagener Kopf mit euch reden und jede Frage, die ihr stellt, beantworten.“
Malak Yunan wurde neugierig und willigte ein.
Hakim Ruyan konnte in Begleitung eines Wächters nach Hause gehen. Drei Tage später kam er zurück. Er hielt ein altes Buch in der Hand, ebenso wie ein Gefäß mit Pulver. Dann bat er um eine große Schüssel. Er leerte das Gefäß mit Pulver in der Schüssel und überreichte dann das alte Buch dem König und sagte:
„Legt nach meinem Tod persönlich das abgeschlagene Haupt in diese Schüssel und dann reibt etwas von dem Pulver in der Schüssel über meinen Kopf, damit er nicht mehr blutet. Danach öffnete das Buch und lest auf der linken Seite drei Zeilen und dann könnt ihr meinen Kopf fragen, was ihr wollt, er wird antworten!“
Der König nahm das Buch in die Hand. Er wollte es öffnen und darin blättern, aber die Buchseiten klebten zusammen. Da befeuchtete er seinen Finger mit etwas Speichel und versuchte wieder, die Seiten des Buches voneinander zu trennen. Als er schließlich die ersten 5 Seiten öffnen konnte, sah er das sie alle leer waren.
Er sagte zu Hakim Ruyan: „Die sind ja leer!“ Aber der Hakim erklärte: „Ihr müsst weiterblättern!“ Wieder befeuchtete der König seinen Finger und es gelang ihm weitere Seiten aufzuschlagen: „Die sind ja auch leer“, stellte er wütend fest. Zornig schaute er den Hakim an und wollte etwas sagen, als ihm auf einmal schlecht wurde. Bewusstlos sank er zu Boden und starb. Das Gift, dass Hakim Ruyan auf die Seiten des Buches aufgetragen hatte, hatte gewirkt.
Danach hieß es unter dem Volke: Wenn Malak Yunan nicht Hakim Ruyan hätte töten wollen, wäre er selber auch nicht getötet worden.