Volkstümliche Erzählungen aus Iran Teil 2
Zu den oft mündlichen Überlieferungen der Volksliteratur gehören auch Gedichte. Sie sind noch in vielen Gegenden Irans erhalten geblieben und meistens im lokalen Dialekt verfasst. Diese poetische Folklore nennt sich „Fahlaiyat“
Einige von diesen Volksgedichten wurden von Sängern auf der Straße und dem Bazaar vorgetragen und von Generation zu Generation weitergegeben, so dass viel davon im Volksmund verblieb. Bei den meisten volkstümlichen Gedichten weiß man nicht, wer sie verfasst hat, manchmal wird aber der Verfasser in einem der Reime genannt. Diese Volksgedichte und -lieder sind leicht zu verstehen und spiegeln Gefühl und Denken des einfachen Volkes wieder. Zumeist wird die Sehnsucht eines Liebenden beschrieben. Diese Volkspoesie enthält Hinweise auf das alltägliche Leben des Volkes und manchmal auch auf wichtige geschichtliche Ereignisse.
Zum Volksmund Irans gehören kurze Märchen, die Mütter, Großmütter und Kindermädchen erzählten. Ihr Erfinder ist unbekannt. Oftmals wurden sie vom Erzähler weiter ausgemalt.
Doch nicht nur Kinder hatten Freude an Märchen. Auch an Königshöfen fanden sie Gefallen. Das bekannte Buch „Tausendundeine Nacht“ ist ein altes Beispiel für solche Märchenbücher, deren Quelle vornehmlich der Volksmund war. Mit Ausnahme der Märchen in Sammlungen wie „Tausendundeine Nacht“, „Samak Ayyar“ und „Eskandar-Nameh“, ist die Mehrheit der kurzen Volksmärchen erst in jüngeren Epochen schriftlich festgehalten worden. In diesen Wiedergaben begegnen wir manchem alten Ausdruck.
Die volkstümlichen Kurzmärchen werden nach zwei Gruppen unterschieden. Der einen werden die sehr phantasievollen Märchen, die angefüllt mit eigentümlichen Abenteuern sind, zugeordnet. In ihnen kommen Hexerei, Riesen und Dämone vor. Zu der anderen Gruppe gehören Märchen, die der Wirklichkeit näher stehen und von wahren Ereignissen und dem Sehnsüchten und reellen Sorgen der Bevölkerung handeln. Viele davon handeln vom Glück und dem Schicksal. Die Helden in diesen Erzählungen sind Könige oder Prinzen aber auch arme Bürger wie Reisigsammler, Schuster und Derwische. In einigen Geschichten tauchen wahre historische Gestalten wie Sultan Mahmud Ghaznawi und Schah Abbas Safawi auf. Sie handeln oft von deren Erlebnisse, wenn sie sich unerkannt unter die Bevölkerung mischten. Einige Märchen enthalten weisen Ratschlag, andere Ironie. Zu den satirischen Erzählungen gehören die über Bahlul, einem Zeitgenossen Imam Sadiqs a.s. und Mula Nasreddin.
Aber nun, nach diesen theoretischen Ausführungen, deren Fortsetzung wir auf das nächste Mal verschieben, folgt ein weiteres Märchen. Auch dieses ist der Sammlung „Tausendundeine Nacht“ entnommen.
Es war einmal ein König namens Sindbad. König Sindbad besaß einen Falken, den er sehr liebte. Er ließ ein kleines Gefäß aus Gold für ihn anfertigen. Das wurde dem Falken umgehängt und mit Wasser gefüllt, so dass das Lieblingstier des Königs niemals durstig blieb.
Eines Tages ging König Sindbad mit seinem Wezir und seinen Sklaven auf die Jagd und natürlich nahm er seinen Falken mit. Ein Reh geriet in die Falle, die der König hatte aufstellen lassen. Die Begleiter des Königs umringten das Tier. Das aber konnte das Netz zerreißen und wollte davon springen, als König Sindbad rief: „Lasst es nicht weglaufen. Wenn es an einem von euch ungehindert vorbeiläuft, lasse ich ihn töten!“
Kaum hatte der König zu Ende gesprochen. als das Reh auf ihn selber zukam und an ihm vorbeihuschte. Die Sklaven blickten zum Wezir herüber und schwiegen und der Wezir raunte dem König zu: „Das Reh ist an Euch vorbeigekommen, was machen wir jetzt?“
König Sindbad gab keine Antwort. Anstelledessen schwang er sich aufs Pferd und rief: „Ich werde dieses Reh verfolgen und nicht zum Palast zurückkehren, bevor ich es nicht eingefangen habe!“ Da sahen sie ihn schon davongallopieren.
Der Falke saß auf der Schulter von König Sindbad. Er schwang sich in die Luft, hatte bald das Reh erreicht und stieß ihm seinen Schnabel in die Augen. Das erblindete Reh konnten nicht mehr fliehen. Als der König es erreichte, tötete er es und warf den Kadaver auf sein Pferd. Dann setzte er sich in den Schatten eines Baumes, um ein wenig auszuruhen. Vom Baum fielen Tropfen zu Boden. König Sindbad war durstig und freute sich. Er nahm seinem Falken das goldene Gefäß ab und begann die Tropfen aufzufangen. Schließlich war das Gefäß voll. König Sindbad führte es zum Mund, um daraus zu trinken als der Falke mit seinen Flügeln gegen das Gefäß schlug. Das fiel prompt zu Boden und nichts von dem kostbaren Nass verblieb darin. König Sindbad schaute seinen Falken verwundert an und sagte dann freundlich: „O, du bist sicher auch durstig. Einen Augenblick!“Mit diesen Worten begann er erneut Tropfen aufzufangen.
König Sindbad hielt das gefüllte Gefäß seinem Falke vor den Schnabel und sagte: „Nun trink erst du. Dann werde ich selber meinen Durst stillen!“Aber wieder stieß der Falke gegen das Gefäß und wieder wurde alle Flüssigkeit verschüttet.
Da dachte König Sindbad: „Vielleicht will er , dass ich erst mein Pferd tränke.“
Also füllte er das Gefäß wieder mit den Tropfen und stellte es vor das Pferd auf den Boden.“ Doch wieder rauschte der Falke herbei und stieß das Gefäß um, noch bevor das Pferd einen Schluck daraus nehmen konnte.
Diesmal wurde der König zornig
König Sindbad schrie: „Du verfluchter Vogel! Du trinkst weder selber Wasser, noch lässt du mich und mein Pferd Wasser trinken.“ In seinem Zorn zog er den Säbel und begann auf die Flügel des Falken einzuschlagen. Blutend schaute der Vogel zum König auf. Schmerzerfüllt wies er mit dem Kopf zu dem Baum hinüber. Der König folgte seinem Blick. Da wurde er die große Schlange gewahr, die sich um einen starken Ast des Baumes geschlungen hatte. Aus ihrem Maul tropfte Gift herab. König Sindbad starrte auf die Schlange und ihm wurde klar, was passiert war. Reuevoll nahm der den verletzten Falken auf den Arm und küsste seine blutenden Flügel: „O mein guter Vogel! Du hast mir das Leben gerettet. Was habe ich dir nur angetan!“ Eilig bestieg er sein Pferd um in seinen Palast zurückzukehren.
Im Palast angelangt, überließ er das Reh dem Koch und bestieg , seinen Falken auf dem Arm, den Thron. Der Falke lag in den letzten Zügen. König Sindbad schaute bedrückt auf ihn herab und streichelte ihm über die verletzten Schwingen. Schließlich starb das Tier und ließ König Sindbad bekümmert zurück. Der bereute bis ans Lebensende seine Tat.