Türkei 1394
-
Wahlplakat des türkischen Politikers Recep Tayyip Erdogan vor der Präsidentschaftswahl im August 2014 (dpa / picture alliance / Tolga Bozoglu)
Einige politische Kreise haben das letzte iranische Sonnenjahr in der Türkei das „Jahr der Wahlen“ genannt, obwohl dieses Land auch im Vorjahr bereits Zeuge mehrerer Wahlen war, nämlich die Präsidentschaftswahl und die Lokalwahlen.
Die landesweiten Parlamentswahlen im Sommer und im Winter 2015 waren natürlich eine neue Gelegenheit für die verschiedenen Akteure auf der politischen Szene.
Die Türkei war aber auch im vergangenen Jahr Zeuge des Vorschlags Erdogans für die Verwirklichung einer Präsidialordnung. Bei der Debatte um diesen Vorschlag geht es um das Thema Macht bzw. die notwendigen Wandlungen um die Unzufriedenheit mit dem jetzigen Stand zu überwinden.
Die Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) konnte zwar bei den Parlamentswahlen im Sommer nicht die Mehrzahl der Mandate für sich bestimmen und die Regierung bilden, aber sie lag in der zweiten Wahlrunde mit mehr als 49 Prozent wieder an der Spitze. Auf diese Weise bleibt sie weiter mindestens bis 2019, wenn die nächsten Präsidentschaftswahlen stattfinden, am Ruder. Auch wurde durch diesen Sieg das internationale Image Erdogans erheblich verbessert.
Ein weiterer großer Gewinner bei den Wahlen im letzten Jahr war die pro-kurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) , die von Selahattin Demirtaş angeführt wird. Diese Partei konnte nämlich die Mindestquote von mehr als 10 Prozent der Stimmen erreichen. Die HDP gelangte somit ins Parlament, wodurch sich das politische Klima im Land geändert hat.
Was aber mehr als alles andere die Bevölkerung im Sommer vergangenen Jahres geistig beschäftigte, waren die Gewalt und Instabilität in diesem Lande zwischen den beiden Wahlen.
Die Türkei erlebte 1394 den blutigsten Terroranschlag in ihrer Geschichte. Mehr als 102 Menschen kamen bei einer Bombenlegung in Ankara ums Leben. Im Gefolge von zwei weiteren Anschlägen der IS-Terroristen in der Türkei stieg die Zahl der Opfer auf 143.
Zugleich brach der ohnehin instabile Prozess der Friedensverhandlungen zwischen der Regierung und den kurdischen Separatisten im Sommer des vergangenen Jahres zusammen und hatte die heftigsten Gewaltausbrüche im Südosten des Landes seit den 9oiger Jahren zur Folge. Fast hundert Zivilisten und 200 Paramilitärs und mehr als 170 Sicherheitskräften verloren bei diesen Unruhen ihr Leben.
Besonders beunruhigend war, dass zum ersten Mal nach 3 Jahrzehnten die Paramilitärs der PKK die Unruhen aus den Bergen in die Stadtzentren und Wohngebiete verlagerten. Es kam zur Verhängung der Ausgangssperre, Straßenkämpfen und Zivilverlusten. Nach dem Wahlsieg der Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung wurden die Kämpfe im Südosten der Türkei in den Kurdengebieten fortgesetzt.
Es hat den Anschein dass dieser unerwartete Wahlsieg die Regierung ermutigte und sie auf den Gedanken brachte, dass sie vor jeder Rückkehr an den Verhandlungstisch erst die PKK schwächen muss und zugleich die Angriffe auf die IS-Terroristen aufbauschen sollte.
Die türkischen Regierungsverantwortlichen haben sich nach Monaten schließlich entschieden gegen die IS-Terroristen etwas zu unternehmen, wenn auch nicht viel.
Die Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung scheint nach zweieinhalb Jahren, in denen sie verschiedenen Krisen begegnet ist – von großen Anti-Regierungskundgebungen bis zu den Korruptionsfällen, das Land besser als vorher in der Kontrolle zu haben.
Zudem rüstet sich Erdogan für einen neuen politischen Kampf für die Umsetzung seiner Vorschläge, für die eventuell ein Referendum stattfinden wird, aus.
Das Jahr 2016 scheint diesem Land nach einem Jahr der Gewalt und des politischen Gerangels etwas Ruhe zu bescheren. Allerdings gab es im März, d.h. gegen Ende des iranischen Sonnenjahres erneut einen blutigen Terroranschlag in Ankara.
Aber es gibt auch Zeichen für Probleme bei der türkischen Regionalpolitik, und in diesem Zusammenhang kann auf die Krise nach dem 24. November, an dem die türkischen Kräfte ein russisches Kampfflugzeug zum Absturz brachten, hingewiesen werden. Eine weitere Krise entstand durch den Entschluss Ankaras, seine Militärkräfte in den Irak zu schicken, damit sie sunnitische Kämpfer für die Rückeroberung von Mosul ausbilden.
Einige sagen, dass die Türkei im vergangenen iranischen Sonnenjahr fast jeden Tag etwas Folgenreiches erlebt hat.
Als man im Herbst vergangenen Jahres am Strand von Bodrum die Leiche eines dreijährigen Kindes fand, erfuhr die Welt auch von dem Tod von über 2000 syrischen Flüchtlingen. Die Veröffentlichung der erschütternden Bilder von diesem schuldlosen Kind machte die Welt auf die Flüchtlingskrise aufmerksam und die verschiedenen Staaten nahmen Stellung zu den laufenden diesbezüglichen Mitteilungen. Die Flüchtlingskrise wurde bald zu einem wichtigen Thema in den Äußerungen von Staatspräsident Erdogan und Ministerpräsident Davutoglu.
Zu den Maßnahmen, die die regierende Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung im vergangenen Jahr ergriff, um Proteste im Land einzudämmen, gehörte die Festnahme von Journalisten. Allerdings hat Erdogan als Reaktion auf internationale Proteste solche Einschränkungen dementiert und eine viel geringerer Zahl von inhaftierten Journalisten angegeben.
Die blutige Explosion in Suruç , bei der mindestens 32 kurdischer Bürger den Tod fanden und 103 Personen verletzt wurden, hat die Situation in der Türkei noch angespannter werden lassen.
Auch wenn die IS-Terroristen die Verantwortung für diesen Terroranschlag übernahmen, so geben die Kurden in der Türkei, der Regierungspartei die Schuld dafür. Im vergangenen Herbst führte auch eine schreckliche Explosion im Bahnhof von Ankara zum Tod von 86 Menschen. 186 Personen wurden verletzt. Dieser Vorfall ließ die Zweifel an der Sicherheit in der Türkei zunehmen.
Die meisten Opfer waren Anhänger der Demokratischen Partei der Völker und hatten an einer Protestversammlung teilgenommen. Deshalb ist man in einigen Kreisen der Ansicht, dass Ankara der Urheber dieses Anschlags ist.
Die Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung konnte jedenfalls mit der Parole „Sicherheit für die Türkei“, im Gegensatz zu der ersten Runde der Parlamentswahlen im Sommer, bei den Parlamentswahlen im November die Mehrheit der Mandate in der Legislative für sich bestimmen.
Die türkischen Beziehungen zum Ausland erlebten im vergangenen Sonnenjahr 1394 einen größeren Wandel und deshalb wurde dieses Land von seinen Nachbarn isoliert. Daraufhin verspürte Ankara Gefahr und war wie nie zuvor bemüht, sich den Ländern des Kooperationsrates am Persischen Golf und seinen westlichen Verbündeten zu nähern. Nicht ohne Erfolg. Die Türkei konnte nahen Kontakt an Saudi Arabien, welches als ein wichtiger politischer und wirtschaftlicher Staat in der Region gilt, anknüpfen.
Wegen der zahlreichen Probleme, die die Türkei 1394 mit seinen Nachbarn hatte, tendierte Ankara zur Unterstützung der takfiristischen Gruppen und zur Ablehnung der Länder, die die Regierung von Baschar Assad unterstützen. Dies führte sogar zum Abschuss der Suchoi 24 der russischen Armee durch die Luftstreitkräfte der Türkei und die Trübung der türkisch-russischen Beziehungen.
Weitere wichtige Ereignisse und Wandlungen im Jahre 1394 in der Türkei waren unter anderem:
Erneute Forderung Erdogans nach Herstellung einer Flugverbotszone in Syrien und erneute Unterstützung für Mursi und die Trübung der Beziehungen zu Kairo, die Bestellung des russischen Botschafters wegen Verletzung des Lufthoheitsgebietes der Türkei durch russische Kampfflugzeuge, Angriff der türkischen Artillerie auf Nordirak, Ablehnung des seitens der PKK vorgeschlagenen Waffenstillstandes , die einseitige Verkündung eines Waffenstillstandes der PKK, Anschluss der Ahrar al Scham an die Al Nosrat auf Anweisung von Ankara, plötzliche Reise des Leiters des gemeinsamen Militärstabes Saudi- Arabiens in die Türkei – die Konfrontationen zwischen den russischen und türkischen Kampfflugzeugen, die Reise von Bundeskanzlerin Merkel in die Türkei und ihr Empfang mit einem goldenen Stuhl seitens Erdogans.
Weitere wichtige Ereignisse 1394 waren: das Eindringen der türkischen Militärkräfte auf irakischen Boden und ihre Stationierung in der Nähe von Mosul, was die scharfe Kritik Bagdads gegen diesen Übergriff auf irakisches Territorium zur Folge hatte und von der Türkei mehrdeutig begründet wurde. Weitere wichtige Ereignisse 1394 war die Zusage der Nato, der Türkei zur Stärkung seiner Luftabwehr Kriegsflugzeuge und Schiffe zu schicken. Außerdem wurde entlang der Grenze zu Syrien mit dem Bau einer Mauer begonnen und es wurden Gerüchte über die Normalisierung der Beziehungen Erdogans zu Israel verlautbar. Der US-Verteidigungsminister reiste in die Türkei und die Türkei stoppte 27 russische Handelsschiffe. Khaled Maschal von der palästinensischen Hamas traf mit den türkischen Verantwortlichen zusammen. Präsident Erdogan reiste nach Riad und es wurde der strategische Rat zur Zusammenarbeit zwischen beiden Ländern gebildet.